Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rache

Die Rache

Titel: Die Rache
Autoren: John T. Lescroart
Vom Netzwerk:
geschlafen hatte, haftete ein vertrauter Geruch an. Er setzte sich auf und zog die Armeedecke um seine mächtigen bloßen Schultern.
    Wenigstens war er nicht im Knast, dachte er. Dem Himmel sei Dank.
    Er stand auf, schauderte, weil er barfuß war, und schlüpfte in die Anzughose, die sie ihm bei seiner Entlassung am Vortag gegeben hatten. Er ging zu dem Loch im Fenster und sah hinunter in einen der Höfe.
    Noch immer wie früher. Graue Gebäude, grauer Nebel, beständiger Wind. Keine Bäume, kein Gras, kein Platz, um zu entfliehen, kein Platz, sich zu verstecken. Martha Reeves and the Vandellas. Jetzt spielten sie überall Rap, er kam schon aus drei oder vier Wohnungen. Das war gut. Gesichter wechselten, Musik wechselte, sogar die Menschen wechselten manchmal. Aber es war dasselbe Revier, sein altes Revier. Revier, Gebiet. Wenn man es kontrollierte, konnte man sich glücklich schätzen. Auf Dauer.
    Er zog die Decke fester um sich und richtete den Blick wieder auf das Loch im Fenster, sah über den Hof. Ein paar Jugendliche standen herum. Vielleicht platzte gerade irgendein Geschäft.
    Mama rief von unten. »Bist du wach, Junge? Schon aufgestanden?«
    Sie war nicht seine Mutter, er nannte sie Mama. Er war nicht sicher, ob sie mit ihm verwandt war. Sie war einfach immer da gewesen, und sie war immer Mama gewesen.
    »Ich komm’ runter«, sagte er.
    Mama zog sich noch genauso an wie früher. Hier in Holly Park gab es keine Mode. Es gab auch keine Politik. Nichts von draußen würde die Dinge hier ändern. Louis wußte das. Alles spielte sich innerhalb von Holly Park ab, er kannte es nicht anders.
    Mama war fett. Sie saß an ihrem Klapptisch und schlürfte Instantkaffee. Ihr Haar wurde von Nadeln zusammengehalten und zum größten Teil von einem Tuch bedeckt. Sie trug ein wei tes Flanellhemd lose über einer verblichenen Jeans, die an den Säumen auf ihren ausladenden Hüften aufzuplatzen drohte.
    Louis küßte sie, löffelte etwas Kaffeepulver in einen Becher, goß kochendes Wasser darüber und setzte sich.
    »Es ist gut, zu Hause zu sein.«
    »Was wirst du jetzt machen?«
    Er zuckte die Achseln und blies in seinen Becher. »Mir einen Job besorgen. Irgendwas. Eine Arbeit.«
    »Und vorsichtig sein, ja?«
    Er langte hinüber und berührte ihr Gesicht. »Mach dir keine Sorgen, Mama. Vorsicht ist eines der wenigen Dinge, die ich gelernt habe.«
    Er fragte sich einen Moment, ob das der Wahrheit entsprach – als sie ihn entlassen hatten, hatte er keinen Gedanken an Vorsicht verschwendet. Aber daß er Ingraham wiedergesehen hatte, kaum daß er draußen war, hatte alles in ihm wieder lebendig werden lassen. Auf der Straße mußte er in jeder Minute vorsichtig sein.
    Er hatte sich schon wieder um seine Geschäfte gekümmert, noch bevor er zu Mama gekommen war. Da hatte er Ingraham wiedergesehen, und sein Blut hatte gekocht. Der Zorn war noch immer da. Den Zorn zu beherrschen, darum ging’s.
    Er umklammerte seinen Becher mit beiden Händen und führte ihn zum Mund.
    Aber das war Schnee von gestern. Es war jetzt zu Ende, hoffte er. Er würde keinen Grund haben, noch einmal darüber nachzudenken. Das war erledigt.
    »Denn hier draußen, weißt du …« Mama wies nach der Hintertür.
    Louis folgte ihrer Geste. Dann ließ er den Blick durch die Küche schweifen. Über dem Herd blätterte die weiße Farbe in Stück en ab. Ein Poster von Muhammed Ali neben einem Kalender mit religiösen Motiven. Er bemerkte den leidenden Christus.
    Mama hielt die Wohnung ziemlich sauber, aber sie war alt. Warum sollte sie über dem Spülbecken eine Scheibe einsetzen? Das Sperrholz würde nicht brechen – und es hielt den Wind ab. Es machte die Küche dunkel, aber Dunkelheit war sicherer. Das ganze Haus war dunkel.
    »Ich weiß Bescheid über draußen, Mama. Ich sage dir, was ich vorhabe, also mach dir keine Sorgen. Ich treffe mich mit diesem Mann, und der hat was für mich zu tun oder nicht. Dann komm’ ich zurück und tu’ hier was.«
    »Was zum Beispiel?«
    Er stand auf und lehnte sich hinüber, um sie zu küssen. »Das Haus, Mama. Wir machen das Haus sauber.«
     
    »Hardy in Ketten«, sagte Glitsky. »Das gefällt mir.«
    »Es ist ein Vergnügen«, stimmte Hardy zu. Er war aufgestanden, als Glitsky den Wohnraum betreten hatte. Einer der Streifenbeamten nahm ihm die Handschellen ab. »Verdammt, diese Dinger erfüllen ihren Zweck.« Hardy öffnete und schloß die Finger, rieb seine Gelenke, versuchte, die Blutzirkulation wieder in Gang zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher