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Die Poison Diaries

Die Poison Diaries

Titel: Die Poison Diaries
Autoren: Maryrose Wood
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mit viel zu viel Selbstmitleid.
    Ich stehe auf. Es bringt die Pflanzen zur Weißglut, dass ich dazu in der Lage bin. Dass ich weggehen kann.
    »Hört euch den Fleischkörper an«, höhnt die Rebendolde. »Kaum siebzehn Jahreswechsel hat er erlebt auf dieser alterslosen Erde, und doch straft er uns mit Verachtung. Wie lautet deine Antwort, Feigling? Hast du getötet oder hast du nicht getötet?«
    Durch ein Dach aus Erlenlaub schaue ich hinauf in den Himmel. Er ist grau und wolkenverhangen. Ich erwarte beinahe, einen Schatten in Form von Flügeln zu sehen, die das wenige Licht, das noch übrig ist, zum Erlöschen bringen. Ein schwarzer Spalt, der sich über den ganzen Himmel öffnet.
    »Ja, ich habe getötet«, knurre ich. »Wir sind beide Mörder. Bringe mich nicht dazu, es dir zu beweisen.«
    Mit dem Gifttagebuch unter dem Arm drehe ich mich um und laufe weg.
    »Was hoffst du, im Wald zu finden, Fleischkörper? Sie ist nicht hier, weißt du?«
    Ich verschließe meine Ohren und renne schneller, immer tiefer in den Wald hinein.
    ***
    Jessamine hat mir einmal gesagt, dass die Menschen in den Wald gehen, um allein zu sein und ihre Gedanken zu sammeln. Damals verstand ich nicht. Warum sollten menschliche Gedanken unter Bäumen verstreut liegen?
    Für mich ist es im Wald wie auf einem Markttag in Alnwick, aber statt Ellbogen, die mich anstoßen und beiseiteschieben, sind es niedrig hängende Zweige, die mir ins Gesicht schlagen, Blätter, die nach meinen Haaren greifen, und Wurzeln, die sich erheben, um mich zu Fall zu bringen.
    Hier im Wald kann man sich nicht verstecken. Die Bäume haben Kenntnis von allem, was ich tue – von jedem Rebhuhn, das ich töte, um zu überleben, von jedem Schluck, den ich aus dem Fluss trinke, von jedem Unterstand, den ich mir aus Moos und Laub errichte. Ich kann nicht einmal hinter einen Lorbeerbusch treten, um Wasser zu lassen, ohne dass sie davon erfahren.
    Meistens sprechen sie in der ihnen eigenen Art – dem tiefen Grollen der Eichen, dem Flüstern der Birken oder dem Singsang der Erlen. Die Stimmen der immergrünen Kronen der Kiefern sind so scharf wie Nadeln.
    Aber der Wald kann auch mit einer einzigen Stimme sprechen, wenn es sein muss. Wenn die Bäume es wünschen, denken sie mit einem einzigen Geist. Besonders wenn Gefahr droht, hallt ihre Warnung wie das einmütige Echo von Tausenden von Stimmen im Wald wider.
    Ich hasse es, wenn sie das tun. Denn der Geist des Waldes hat immer recht und lässt keinen Widerspruch zu.
    Ich steige den Hügel hinauf und folge dabei dem Verlauf eines Bachs. Das Plätschern wirkt beruhigend auf mich. Wenn ich durstig bin, bleibe ich stehen, knie mich hin und trinke.
    Du hast einen halben Jahreswechsel bei uns verbracht, Weed. Und du bist immer noch unglücklich. Voller Wut. Wir wissen nicht, wie wir dir helfen sollen.
    »Ihr könnt mir nicht helfen.« Ich spritze mir Wasser ins Gesicht, wieder und wieder, aber meine Haut will einfach nicht abkühlen. »Meine Liebste wurde mir genommen. Ich habe versprochen, ihr fernzubleiben, und ich kann niemals wieder glücklich werden.«
    Die Zeiten ändern sich, Weed
, gibt mir der Wald zur Antwort.
Die Zeiten ändern sich.
    Ich gehe bis zu der Stelle, wo ein stiller Teich den Bach nährt. Ich lege die gestohlenen Kleider ab, hole tief Luft und tauche in das Wasser. Es ist ein gutes Gefühl, die Muskeln zu bewegen und das kalte Wasser zu spüren, aber selbst das Bad im Teich kann mein Gemüt nicht kühlen.
    Ich habe den Körper eines Mannes, aber was nutzt mir meine Stärke? Ich habe versucht, ein Mensch zu sein, und ich habe versagt. Dass ich überhaupt weiterleben kann, versteckt im Wald, wie ein Geächteter, der nirgends hingehört, verbannt und allein, ist selbst mir ein Rätsel.
    Nachdem ich aus dem Wasser gestiegen bin, setze ich mich ans Ufer und starre mein Spiegelbild an. Es ist das einzige menschliche Antlitz, das ich gesehen habe, seit ich in den Wald geflohen bin. Mein Haar ist lang und verfilzt und auf meinen Wangen wächst ein rauer Bart. Meine Haut ist dunkel von der Sonne und vom Schmutz. In meinen Augen steht die Einsamkeit geschrieben, untermalt von einem kalten Glitzern der Wut.
    Ich werfe einen Stein ins Wasser, und mein Spiegelbild zersplittert. Als Kind, geschmäht für meine Andersartigkeit und gemieden von meinen Mitmenschen, glaubte ich, dass ich glücklich sein würde, wenn es mir nur vergönnt wäre, unter Pflanzen zu leben. Jetzt bin ich hier, und alles, was ich empfinde, ist
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