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Die Pfeiler der Macht

Die Pfeiler der Macht

Titel: Die Pfeiler der Macht
Autoren: Ken Follett
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Befreiungsversuche, verzweifeltes Kratzen und Schaben drang aus dem Koffer. Augusta schloß die Augen, biß die Zähne zusammen und schob den Koffer zentimeterweise weiter hinauf. Als sie alle Kräfte, die ihr verblieben waren, anspannte, spürte sie, daß in ihrem Rücken irgend etwas nachgab. Im selben Augenblick durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Sie schrie auf, ohne jedoch den Koffer fallen zu lassen. Der hintere Teil war nun schon höher als der vordere, rutschte auf der Reling einige Zentimeter vor und blieb dann hängen. Augustas Rücken war eine einzige Qual. Sie mußte jetzt jederzeit damit rechnen, daß Mickys Geschrei einen Passagier aus dem Tiefschlaf schrecken würde. Sie wußte, daß sie nur noch zu einem einzigen Stoß imstande war - es mußte der letzte sein. Noch einmal nahm sie all ihre Kräfte zusammen, schloß die Augen, biß wegen des Schmerzes im Kreuz die Zähne zusammen und stemmte sich gegen den Koffer.
    Dieser rutschte langsam über die Reling, kippte vornüber und stürzte in die Tiefe.
    Micky stieß einen langen, klagenden Schrei aus, der im Wind erstarb.
    Augusta sackte nach vorn, lehnte sich über die Reling, um ihrem schmerzenden Rücken Erleichterung zu verschaffen, und beobachtete, wie der riesige Überseekoffer mit den Schneeflocken durch die Luft torkelte, sich mehrmals überschlug, mit einer mächtigen Fontäne ins Wasser klatschte und unterging.
    Schon nach wenigen Augenblicken tauchte er wieder auf. Er wird noch eine Weile schwimmen, dachte Augusta. Die Schmerzen waren kaum noch auszuhalten. Sie hätte sich am liebsten hingelegt, blieb aber vorerst an der Reling stehen und sah dem Koffer nach, der auf der Dünung auf und ab tanzte, bevor er aus ihrem Blickfeld entschwand.
    Neben ihr ertönte eine besorgte Männerstimme. »Mir war, als hätte ich jemanden um Hilfe schreien hören.« Augusta faßte sich schnell. Sie drehte sich um und erblickte einen höflichen jungen Mann in einem seidenen Morgenmantel. Um den Hals trug er einen Schal.
    »Ja, das war ich«, sagte sie und zwang sich ein Lächeln ab. »Ich hatte einen Alptraum und wachte von meinen eigenen Schreien auf. Ich bin dann an Deck gegangen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.«
    »Ach so. Geht es Ihnen auch wirklich wieder gut?«
    »Ja, wirklich. Sie sind sehr freundlich.«
    »Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Der junge Mann ging wieder in seine Kabine. Augusta blickte aufs Meer hinunter. Bevor sie sich zurück zu ihrem Bett schleppte, wollte sie noch eine kleine Weile an der Reling stehenbleiben und den Wellen zuschauen. Das Wasser wird langsam durch die schmalen Zwischenräume sickern, dachte sie. Zentimeter um Zentimeter wird es an Mickys Körper emporkriechen, während er immer noch verzweifelt versucht, den Deckel zu öffnen. Bedeckt es endlich Mund und Nase, wird er den Atem anhalten, solange er kann. Zum Schluß wird er dann zwanghaft und heftig nach Luft ringen, und die eiskalte, salzige See wird durch Mund und Hals in seine Lunge strömen. Von Schmerzen und Todesangst gepeinigt, wird er sich noch ein paarmal hin und her werfen; schließlich werden seine Bewegungen immer schwächer, bis ihn eine tiefe Schwärze umfängt und er stirbt.
     
    Hugh war todmüde, als der Zug im Bahnhof von Chingford einlief und zum Halten kam. Er stieg aus und betrat kurz darauf die Brücke, die über die Gleise führte. Obwohl er sich nach seinem Bett sehnte, blieb er an der Stelle, an der Micky am Vormittag Tonio Silva erschossen hatte, stehen, zog seinen Hut und verharrte eine Minute lang barhäuptig im fallenden Schnee. Seine Gedanken galten seinem Freund, dem jungen wie dem erwachsenen Tonio. Dann setzte er seinen Weg fort.
    Er fragte sich, inwieweit die Ereignisse des vergangenen Tages die Einstellung des Außenministeriums zu Cordoba beeinflussen könnten. Bisher war Micky Miranda der Polizei entkommen. Unabhängig davon, ob Micky nun erwischt wurde oder nicht, konnte sich Hugh jedoch den Umstand zunutze machen, daß er den Mord aus nächster Nähe miterlebt hatte. Mit Vergnügen würden die Zeitungen seinen detaillierten Augenzeugenbericht veröffentlichen. Daß ein ausländischer Diplomat am hellichten Tag einen Mord begehen konnte, würde in der Öffentlichkeit einen Aufschrei der Empörung auslösen, und es war damit zu rechnen, daß der eine oder andere Unterhausabgeordnete die Forderung nach Vergeltungsmaßnahmen erhob. Die Tatsache, daß Micky ein Mörder war, konnte Papa Mirandas
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