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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Lymphknoten.»
    «Unnormal?»
    «Na ja, was heißt schon normal …?», sagte Richard.
    Am Abend jedenfalls delirierte der Concierge und beschwerte sich bei vierzig Grad Fieber über die Ratten. Rieux versuchte es mit einem Ableitungsherd. Beim Brennen des Terpentins brüllte der Concierge: «Ah, die Schweine!»
    Die Lymphknoten waren noch dicker geworden und fühlten sich hart und holzig an. Die Frau des Concierge war außer sich vor Angst.
    «Wachen Sie bei ihm», sagte der Arzt, «und rufen Sie mich, wenn nötig.»
    Am nächsten Tag, dem 30. April, wehte eine schon laue Brise an einem blauen, feuchten Himmel. Sie brachte Blumenduft mit sich, der aus den entferntesten Vororten stammte. Die Morgengeräusche auf der Straße schienen lebhafter, fröhlicher als sonst. Befreit von der dumpfen Furcht, in der sie eine Woche lang gelebt hatte, war dieser Tag für unsere ganze kleine Stadt ein Neubeginn. Selbst Rieux, durch einen Brief von seiner Frau beruhigt, stieg leichten Herzens zum Concierge hinunter. Und tatsächlich war das Fieber am Morgen auf achtunddreißig Grad gefallen. Geschwächt lag der Kranke im Bett und lächelte.
    «Es ist besser geworden, nicht wahr, Herr Doktor?», sagte seine Frau.
    «Warten wir noch ab.»
    Aber mittags war das Fieber auf vierzig Grad in die Höhe geschnellt, der Kranke delirierte unentwegt, und das Erbrechen hatte wieder angefangen. Die Lymphknoten am Hals taten beim Betasten weh, und der Concierge schien seinen Kopf so weit wie möglich vom Körper entfernt halten zu wollen. Seine Frau saß am Fußende des Bettes, ihre Hände lagen auf der Decke und hielten sanft die Füße des Kranken. Sie sah Rieux an.
    «Hören Sie», sagte der, «wir müssen ihn isolieren und eine Spezialbehandlung versuchen. Ich rufe das Krankenhaus an, und wir bringen ihn im Krankenwagen hin.»
    Zwei Stunden später im Krankenwagen beugten sich der Arzt und die Frau über den Kranken. Aus seinem mit schwammigen Schwellungen verklebten Mund kamen Wortfetzen: «Die Ratten!», sagte er. Grünlich, mit wächsernen Lippen, bleischweren Lidern, kurzem, stoßweisem Atem, von den Lymphknoten gemartert, tief in seine Pritsche vergraben, als hätte er sie am liebsten über sich verschlossen oder als riefe ihn unablässig etwas aus der Tiefe der Erde, erstickte der Concierge unter einem unsichtbaren Gewicht. Die Frau weinte.
    «Gibt es denn keine Hoffnung mehr, Herr Doktor?»
    «Er ist tot», sagte Rieux.
     
     
    Man kann vielleicht sagen, dass der Tod des Concierge das Ende jener Zeit voll verwirrender Zeichen und den Beginn einer anderen, vergleichsweise schwierigeren kennzeichnete, in der die anfängliche Bestürzung sich allmählich in Panik verwandelte. Wie unsere Mitbürger nun merken sollten, hatten sie nie gedacht, dass unsere kleine Stadt ein besonders geeigneter Ort sein könnte, wo die Ratten in der Sonne sterben und die Concierges an seltsamen Krankheiten zugrunde gehen. In dieser Hinsicht befanden sie sich genaugenommen im Irrtum und mussten ihre Vorstellungen revidieren. Wenn damit alles sein Bewenden gehabt hätte, wären sie sicher zu ihren Gewohnheiten zurückgekehrt. Aber andere unter unseren Mitbürgern, die nicht immer Concierges und auch nicht arm waren, mussten denselben Weg gehen, den Monsieur Michel als Erster genommen hatte. Von diesem Moment an begann die Angst und mit ihr das Nachdenken.
    Doch bevor der Erzähler diese neuen Ereignisse im Einzelnen schildert, hält er es für nützlich, die Meinung eines anderen Zeugen der eben beschriebenen Zeit zu zitieren. Jean Tarrou, dem wir schon am Anfang dieses Berichts begegnet sind, hatte sich einige Wochen zuvor in Oran niedergelassen und wohnte seither in einem großen Hotel im Stadtzentrum. Er schien offenbar wohlhabend genug, um von seinen Einkünften zu leben. Aber obwohl die Stadt sich allmählich an ihn gewöhnt hatte, konnte niemand sagen, woher er kam oder warum er da war. Man begegnete ihm an allen öffentlichen Orten. Seit dem Frühlingsanfang wurde er häufig am Strand gesehen, wo er oft und mit sichtlichem Vergnügen schwamm. Gutmütig und immer lächelnd, schien er alle natürlichen Freuden zu schätzen, ohne ihnen verfallen zu sein. Tatsächlich war seine einzige bekannte Gewohnheit der rege Umgang mit den in unserer Stadt ziemlich zahlreichen spanischen Tänzern und Musikern.
    Seine Aufzeichnungen jedenfalls bilden auch eine Art Chronik jener schwierigen Zeit. Aber es handelt sich um eine sehr eigentümliche Chronik, die einer
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