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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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frischen Kadavers spürte. Man hätte meinen können, dass die Erde selbst, auf die unsere Häuser gestellt waren, sich von ihrer Ladung Körpersäfte entschlacke, dass sie Furunkel und Eiterwunden an die Oberfläche aufsteigen ließ, die bisher in ihrem Innern gärten. Man stelle sich nur die Bestürzung unserer bis dahin so ruhigen und in wenigen Tagen völlig verwandelten kleinen Stadt vor, wie ein gesunder Mensch, dessen dickes Blut auf einmal in Aufruhr gerät.
    Die Dinge gingen so weit, dass die Agentur Ransdoc (Erkundigungen, Beweismaterial, Erkundigungen aller Art) in ihren kostenlosen Rundfunknachrichten allein am 25. sechstausendzweihunderteinunddreißig eingesammelte und verbrannte Ratten bekanntgab. Diese Zahl, die dem täglichen Schauspiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn gab, steigerte die Verwirrung noch. Bisher hatte man sich nur über eine etwas abstoßende Erscheinung beklagt. Jetzt bemerkte man, dass dieses Phänomen, dessen Auswirkung man noch nicht genau angeben und dessen Ursprung man nicht ausmachen konnte, etwas Bedrohliches hatte. Nur der asthmatische alte Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit seniler Freude: «Sie kommen heraus, sie kommen heraus.»
    Am 28. April jedoch meldete Ransdoc eine Sammlung von etwa achttausend Ratten, und die Angst war in der Stadt auf ihrem Höhepunkt. Man verlangte radikale Maßnahmen, man beschuldigte die Behörden, und manche, die Häuser am Meer hatten, sprachen schon davon, sich dorthin zurückzuziehen. Aber am nächsten Tag meldete die Agentur, das Phänomen habe abrupt aufgehört und die Abteilung für Rattenbekämpfung habe nur eine unwesentliche Menge toter Ratten eingesammelt. Die Stadt atmete auf.
    Doch am selben Tag, als Doktor Rieux mittags sein Auto vor seinem Haus abstellte, sah er am Ende der Straße den Concierge, der sich mühsam, mit gesenktem Kopf, gespreizten Armen und Beinen in der Haltung eines Hampelmanns vorwärts bewegte. Der alte Mann stützte sich auf den Arm eines Priesters, den der Arzt erkannte. Es war Pater Paneloux, ein gelehrter und streitbarer Jesuit, dem er manchmal begegnet war und der in unserer Stadt sogar von jenen, die in Sachen Religion gleichgültig sind, sehr geschätzt wurde. Er wartete auf sie. Der alte Michel hatte glänzende Augen und atmete pfeifend. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und an die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen am Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten hatten ihn gezwungen, umzukehren und Pater Paneloux um Hilfe zu bitten.
    «Das sind Schwellungen», sagte er. «Ich muss mich überanstrengt haben.»
    Der Arzt streckte den Arm aus der Autotür und tastete mit dem Finger unten über den Hals, den Michel ihm entgegenstreckte; dort hatte sich eine Art holziger Knoten gebildet.
    «Legen Sie sich ins Bett und messen Sie Ihre Temperatur, ich komme Sie heute Nachmittag besuchen.»
    Nachdem der Concierge weg war, fragte Rieux Pater Paneloux, was er von dieser Geschichte mit den Ratten halte.
    «Oh», sagte der Pater, «das muss eine Epidemie sein», und seine Augen lächelten hinter der runden Brille.
    Nach dem Mittagessen las Rieux noch einmal das Telegramm der Privatklinik, die ihm die Ankunft seiner Frau meldete, als das Telefon klingelte. Es war einer seiner ehemaligen Patienten, ein Angestellter der Stadtverwaltung. Er hatte lange an einer Verengung der Aorta gelitten, und da er arm war, hatte Rieux ihn kostenlos behandelt.
    «Ja», sagte er, «Sie erinnern sich an mich. Aber es geht um einen anderen. Kommen Sie schnell, bei meinem Nachbarn ist etwas passiert.»
    Seine Stimme war atemlos. Rieux dachte an den Concierge und beschloss, ihn anschließend zu besuchen. Einige Minuten später betrat er ein niedriges Haus in der Rue Faidherbe, in einem Außenbezirk. Auf halber Höhe der kühlen, stinkenden Treppe begegnete er Joseph Grand, dem Angestellten, der ihm entgegenkam. Er war ein Mann um die fünfzig, mit gelbem Schnurrbart, groß und gebeugt, mit schmalen Schultern und mageren Gliedern.
    «Es geht ihm besser», sagte er, als er bei Rieux ankam, «aber ich dachte, er würde draufgehen.»
    Er schnäuzte sich. Im zweiten und obersten Stockwerk las Rieux auf der linken Tür mit roter Kreide geschrieben: «Herein, ich habe mich aufgehängt.»
    Sie gingen hinein. Der Strick hing über einem umgekippten Stuhl und dem in eine Ecke geschobenen Tisch von der Aufhängung herab. Aber er hing ins Leere.
    «Ich habe ihn noch rechtzeitig abgehängt», sagte
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