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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Bevölkerung am Telefon oder in den Cafés über Wechsel, Konnossemente und Skonto spricht. Man wird verstehen, wie ungemütlich hier der Tod, selbst der moderne, sein kann, wenn er in dieser Weise an einem gefühllosen Ort eintritt.
    Diese paar Angaben vermitteln vielleicht eine hinlängliche Vorstellung von unserem Gemeinwesen. Im Übrigen soll man nichts übertreiben. Hervorgehoben werden musste die banale Seite der Stadt und des Lebens. Doch sobald man Gewohnheiten angenommen hat, verbringt man seine Tage mühelos. Da unsere Stadt Gewohnheiten fördert, kann man sagen, dass alles bestens ist. So gesehen ist das Leben wahrscheinlich nicht sehr aufregend. Zumindest kennt man bei uns keine Unordnung. Und unsere offenherzige, sympathische und aktive Bevölkerung hat bei Reisenden immer die gebührende Achtung hervorgerufen. Diese Stadt ohne Pittoreskes, ohne Vegetation und ohne Seele wirkt am Ende geruhsam, man schläft hier schließlich ein. Aber es ist angebracht hinzuzufügen, dass sie sich in einer unvergleichlichen Landschaft angesiedelt hat, mitten auf einer von leuchtenden Hügeln umgebenen kahlen Hochebene, an einer vollendet gezeichneten Bucht. Man kann nur bedauern, dass sie mit dem Rücken zu dieser Bucht erbaut wurde und es von daher unmöglich ist, das Meer zu sehen, das man immer suchen gehen muss.
    Nach alldem wird man unschwer einräumen, dass nichts unsere Mitbürger die Vorkommnisse erwarten lassen konnte, die sich im Frühling jenes Jahres zutrugen und die, wie wir später begriffen, gleichsam die ersten Anzeichen der Serie von schlimmen Ereignissen waren, über die hier berichtet werden soll. Diese Tatsachen werden manchen ganz normal erscheinen und anderen wiederum unwahrscheinlich. Aber schließlich kann ein Berichterstatter diese Widersprüche nicht berücksichtigen. Er hat nur die Aufgabe zu sagen: «Das ist geschehen», wenn er weiß, dass dies tatsächlich geschehen ist, dass dies das Leben eines ganzen Volkes betroffen hat und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit dessen, was er sagt, bewerten werden.
    Außerdem hätte der Erzähler, den man noch rechtzeitig kennenlernen wird, kaum ein Recht auf ein solches Vorhaben, wenn der Zufall ihn nicht in den Stand versetzt hätte, eine gewisse Zahl von Aussagen zu sammeln, und wenn er nicht zwangsläufig in alles verwickelt gewesen wäre, wovon er zu berichten vorhat. Das berechtigt ihn dazu, sich als Geschichtsschreiber zu betätigen. Natürlich hat ein Geschichtsschreiber, selbst wenn er Amateur ist, immer Dokumente. Der Erzähler dieser Geschichte hat also die seinen: zunächst einmal sein Zeugnis, dann das der anderen, da seine Rolle dazu führte, dass er die vertraulichen Mitteilungen aller Personen in dieser Chronik sammelte, und zu guter Letzt die Texte, die ihm am Ende in die Hände fielen. Er beabsichtigt, auf sie zurückzugreifen, wenn er es für gut hält, und sie nach seinem Belieben zu benutzen. Er beabsichtigt weiter … Aber vielleicht ist es an der Zeit, mit den Kommentaren und Kautelen aufzuhören und zum Bericht selbst zu kommen. Die Schilderung der ersten Tage erfordert einige Genauigkeit.
     
     
    Am Morgen des 16. April trat Doktor Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolperte mitten auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte. Vorerst schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und ging die Treppe hinunter. Aber auf der Straße kam ihm der Gedanke, dass diese Ratte dort nicht hingehörte, und er machte kehrt, um den Concierge zu informieren. Angesichts der Reaktion des alten Monsieur Michel wurde ihm klarer, wie ungewöhnlich seine Entdeckung war. Das Vorhandensein dieser toten Ratte war ihm nur sonderbar vorgekommen, wohingegen es für den Concierge einen Skandal darstellte. Dessen Standpunkt war kategorisch: Es gab keine Ratten im Haus. Der Arzt mochte ihm noch so nachdrücklich versichern, dass auf dem Treppenabsatz im ersten Stock eine sei, und vermutlich eine tote, Monsieur Michels Überzeugung blieb unangetastet. Es gebe keine Ratten im Haus, diese müsse folglich von außen hereingebracht worden sein. Kurz, es handle sich um einen Streich.
    Am selben Abend stand Bernard Rieux im Flur des Hauses und suchte seine Schlüssel, ehe er zu seiner Wohnung hinaufging, als er aus dem dunklen Hintergrund des Korridors eine unsicher laufende dicke Ratte mit nassem Fell auftauchen sah. Das Tier blieb stehen, schien das Gleichgewicht zu suchen, lief auf den Arzt zu, blieb wieder stehen, drehte sich
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