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Die Peitschenbrüder

Die Peitschenbrüder

Titel: Die Peitschenbrüder
Autoren: Horst Hoffmann
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Verdacht, der sich Mythor aufgedrängt hatte, schien also unbegründet gewesen zu sein.
    »Kommt!« rief er den anderen zu. Nottr war bereits auf dem Weg zu den Häusern. Das Weinen verstummte. Erst als die Gefährten auf einer breiten Straße zwischen dem Park und den Gebäuden standen, hörten sie es wieder, diesmal ganz nah.
    Es kam aus einem rot angestrichenen Backsteinhaus, dessen Tür offenstand.
    Mythor drang ohne Zögern in das Haus ein und durchsuchte die Räume des Erdgeschosses. Wieder war das Weinen verstummt. Nottr fand eine Tür, die in einen Hinterhof führte. Nach einer Minute kam er zurück und schüttelte den Kopf. »Nichts. Wir müssen nach oben.«
    Eine Holztreppe mit verziertem, metallenem Geländer führte zu den oberen Stockwerken hinauf. An den Wänden hingen gerahmte Bilder, die Landschaften und Menschen bei der Arbeit zeigten, in erster Linie Fischer. Menschen, die lachten.
    Gemeinsam durchsuchten die Reisenden Raum für Raum, und immer wieder fanden sie sich achselzuckend auf den Fluren zusammen, bis nur noch ein Stockwerk übrigblieb.
    Kalathee fand das Kind in einer Ecke eines kleinen Zimmers kauernd. Sie rief nach den anderen. Als Mythor erschien, zitterte Kalathee am ganzen Körper. »Die Augen«, brachte sie kaum hörbar hervor. »Sieh dir ihre Augen an, Mythor. Sie. sind nicht von dieser Welt.«
    Das Mädchen war schätzungsweise sieben Jahre alt und unglaublich mager. In ihren schmutzigen Kleidern hatte sie gar keine Ähnlichkeit mit den Bewohnern von Lockwergen, wie sie auf den Bildern dargestellt waren: kräftige Männer und wunderschöne Frauen in kostbaren Gewändern.
    Doch das interessierte Mythor im Moment nicht. Hier hatten sie jemanden gefunden, der die Katastrophe - oder was immer über Lockwergen hereingebrochen war - überstanden hatte. Jemand, der Antwort auf die vielen quälenden Fragen geben konnte.
    Mythor kniete vor dem Kind nieder und legte ihm behutsam die Hände auf die Schultern. Er brachte ein Lächeln zustande.
    Das Mädchen nahm ihn nicht einmal wahr. Sein Blick war ins Leere gerichtet, und es schien Dinge zu sehen, die Mythor und seinen Begleitern verborgen blieben. Wieder weinte das Mädchen. Dann schien es so, als wolle es nach jemandem rufen. Die Lippen wollten Worte formen, doch heraus kam nur unverständliches Gestammel.
    Es war nicht an Mythor gerichtet. Mythor beobachtete das Gesicht des Kindes schweigend, und es überlief ihn eiskalt, wenn er in die großen Kinderaugen sah, die ein Ziel jenseits des Greifbaren erfasst zu haben schienen. Es war, als wolle das Mädchen mit jemandem reden, der in diesem Raum war und der nicht Mythor, Kalathee, Sadagar oder Nottr hieß.
    Alle Versuche Mythors, das Mädchen durch Rütteln an den Schultern oder durch eindringliche Worte in die Realität zurückzuholen, scheiterten. Sie sah ihn nicht, hörte und spürte ihn nicht.
    Allmählich erstarb das Schluchzen ganz. Das Kind kauerte sich noch fester zusammengekrümmt in seine Ecke, die Augen unverändert in die Ferne gerichtet.
    Nicht von dieser Welt...
    Erschüttert richtete Mythor sich auf. »Wir suchen weiter!« entschied er.
    Steinmann Sadagar schüttelte heftig den Kopf. »Lass uns umkehren, bevor es zu spät dazu ist, Mythor. Was immer Lockwergen heimgesucht hat, ist schlimmer als der Tod! Und es wird auch uns ereilen, falls wir.«
    »Möchtest du es im Rücken haben?« unterbrach Mythor den Steinmann barsch. »Möchtest du, dass es jederzeit wieder geschehen kann, ganz egal, wo wir uns gerade befinden?«
    »Glaubst du denn, die verschwundenen Menschen zurückbringen zu können, indem wir hier unser Leben aufs Spiel setzen? Glaubst du, du kannst sie retten?«
    Mythor sah finster aus dem einzigen Fenster des Zimmers, hinab auf den Park, auf leere Straßen und Häuser. Im Westen war von hier aus ein Teil des Palastes zu erkennen, dessen Türme er schon gesehen hatte. »Sie nicht, Steinmann. Aber vielleicht andere. Vielleicht uns.«
    Mythor dachte an die Caer und ihre Priester. Im Hafen hatten keine Caer-Schiffe gelegen, es sei denn, ihre Besatzungen hätten sie gut versteckt. Doch auf dieser Insel lag das Machtzentrum der Caer.
    Alles, was Mythor bisher von Lockwergen gesehen hatte, sprach dagegen, dass die Stadt in der Vergangenheit Kontakt mit den finsteren Mächten aus der Dunkelzone gehabt hatte.
    Doch jetzt fragte sich Mythor, ob es überhaupt noch einen Ort auf der Welt gebe, der vor diesen unheimlichen Mächten der Finsternis und ihren Werkzeugen sicher sein
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