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Die Oger - [Roman]

Die Oger - [Roman]

Titel: Die Oger - [Roman]
Autoren: Bastei Lübbe
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anderer Zwerg stieß dem Pfeifer unsanft in den Rücken und sagte laut zu ihm: »So ist es richtig, wenn das Wild zu schnell wird, muss man sich am Aas vergreifen.«
    Diese Bemerkung löste allgemeine Heiterkeit unter den Bärtigen aus. Ein Träger, der allein ein Fass geschultert hatte, wurde unter ihm begraben und zappelte hilflos mit Armen und Beinen. Den Übrigen standen die Tränen in den Augen, und sie mussten sich am Karren festhalten.
    Bei den Bürgern Osbergs waren die derben Späße der Zwerge wohlbekannt, und niemand nahm Anstoß daran. Sie konnten nämlich auch sehr hilfsbereit sein, und außerdem ließen sie bei ihren Besuchen viel Gold in der Stadt. Ein Sprichwort in Osberg lautete: »Ein Zwerg bringt den Tod, zwei bringen Geld und drei bringen Stimmung.«
    Die alte Frau hatte die andere Straßenseite erreicht und drehte sich langsam und auf ihren Stock gestützt zu den Zwergen um. Sie sah den Zwerg unter dem Bierfass mit einem festen Blick an und begann zu lächeln, sodass ihre lückenhaften Zahnreihen sichtbar wurden. Dann senkte sie den Blick wieder, und wie von Geisterhand gezogen, sprang plötzlich der Zapfen aus dem Fass heraus, und das wohlschmeckende Gebräu ergoss sich über den darunter liegenden Zwerg. Jetzt gab es kein Halten mehr bei den bärtigen Trägern. Jeder zückte seinen Holzbecher, den er am Hosenbund befestigt hatte und sorgte dafür, dass so wenig Gerstensaft wie möglich im Rinnstein versickerte. Die Feier war in vollem Gange. Die alte Frau setzte unbemerkt ihren Weg fort, und man hörte nur ein leises Kichern unter ihrer Kapuze hervordringen.
    Ihre Enkelin Cindiel, die am anderen Ende der Straße stand, hörte jedoch überdies noch ein gemurmeltes »Kind, es ist schon spät, bleib nicht mehr zu lange draußen.«
    Das Mädchen hörte die Stimme zwar nicht mit ihren Ohren, dafür war das Flüstern in ihrem Kopf umso deutlicher. Cindiels Großmutter war bewandert in der Hexenkunst, und ihre Enkelin lernte von ihr. Hexerei hatte ihren Ursprung in der Natur und den Gefühlen, im Gegensatz zur arkanen Zauberei, die sich auf Wissenschaft, Formeln und Ingredienzien stützte. Die arkane Zauberei bot mehr Möglichkeiten und war auch sicherer in der Anwendung. Deshalb gab es auch kaum noch Menschen, die Hexerei ausübten. Zauberei wurde an großen Magierschulen unterrichtet. Hexerei wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Manchmal wurde dabei auch eine Generation übersprungen, wie in Cindiels Fall. Ihre Eltern waren früh an einer Krankheit gestorben, welche die Atmung aussetzen ließ. Nun kümmerte sich die Großmutter seit vier Jahren um das Mädchen und gab ihm jeden Tag ein wenig ihres Wissens weiter.
    Cindiel liebte es, abends in den Gassen umherzulaufen und sich das bunte Treiben anzusehen. Tagsüber waren fast alle Handwerker und Kaufleute damit beschäftigt, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber abends waren die Leute wesentlich ausgelassener.
    Das Mädchen mochte die beleuchteten Fenster in den Häuserfronten und stellte sich gern vor, was dahinter gerade wohl geschehen mochte. Sie beobachtete oft den Rauch, der sich aus den Schornsteinen den Sternen entgegenkräuselte, und am liebsten betrachtete sie die Passanten und Nachtschwärmer, die die Straßen Osbergs nach Sonnenuntergang bevölkerten. Cindiel hätte dem bunten Treiben auf der Straße stundenlang zusehen können, aber gerade hatte sie ein bestimmtes Ziel, und deswegen eilte sie weiter ins Zentrum der Stadt.
    Fünf Minuten, drei Seitengassen und zwei Betrunkene später erreichte sie ihr Ziel, die Taverne Kupfergrotte. Diese Taverne war in einem dreistöckigen Fachwerkhaus mit einem spitzen Schindeldach untergebracht. Die Fenster waren mit Fensterläden verschlossen, und nur ein kleiner Spalt dazwischen gewährte einen Blick auf den gut gefüllten Innenraum. Jedes Mal, wenn die Tür sich öffnete, wurde eine Dunstwolke aus Tabakrauch, Essensdüften und schwerem Parfüm auf die Straße geweht, und man konnte kurz das unentwegte Stimmengewirr vernehmen. Über der Tür hing ein hölzernes Schild, das von einer Laterne beleuchtet wurde, und auf dem man eine verbogene Münze erkennen konnte.
    Allerdings wollte Cindiel nicht in der Taverne einkehren, sondern sie suchte jemanden, den sie darin vermutete. Sie musste nicht sonderlich lang Ausschau halten. Als zwei jüngere Männer die Treppenstufen zur Straße hinabstiegen, gaben sie den Blick auf einen älteren Mann in zerlumpter Kleidung frei, der auf der
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