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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich
Autoren: Wilfried Eggers
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reinkann.«
    »Und wieso kannst du nicht rein?«
    »Weil ich rausgeflogen bin.« Der Junge hat ein spitzes Gesicht, das alt aussieht.
    »Wie alt bist du eigentlich?«
    »Sechs.«
    »Dann kommst du im Sommer zur Schule.« Was soll man mit kleinen Kindern reden?
    »Das will ich auch. Wenn ich in der Schule bin, kann Onkel Volli kommen, ohne dass ich rausfliege.«
    »Und wer ist Onkel Volli?« Kurbjuweit ist irritiert, er kennt keinen Onkel Volli. Seine Informationen über die Leute im Haus stammen noch von Mutter, sie sind jetzt fünf Monate alt und bedürfen der Überholung.
    »Der besucht Mama öfters in der letzten Zeit. Und er hat sogar Papa rausgeschmissen. Da war ich bei. Und mich schmeißt er auch raus. Das finde ich ungerecht. Mattleen darf drinbleiben.«
    Madeleine ist die Tochter der Thielpapeschen, sie ist noch kein Jahr alt. Kevin klopft auf den Kinderwagen, an dem er lehnt. Kurbjuweit schweigt.
    »Wenn ich wieder reindarf, kriege ich Pommes, hat Mama gesagt«, redet Kevin weiter. »Ich warte schon mindestens zwei Stunden.«
    »Frierst du nicht?«, fragt Kurbjuweit und ärgert sich im selben Moment. Wieso fragt er das? Es ist doch warmes Frühlingswetter. Man hat seine Worte nicht unter Kontrolle, wenn man so lange nicht gesprochen hat.
    »Ein bisschen«, antwortet der Junge und lässt seine mageren Schultern zittern, ein wenig mehr als notwendig.
    »Na, dann wollen wir mal hoffen, dass die bald fer…, ich meine, dass du bald wieder reinkannst.«
    »Bist du auch schon mal rausgeflogen?«
    »Ja«, sagt Kurbjuweit. »Bin ich.« Mit Rausgeschmissenwerden kennt er sich aus. Überall ist er rausgeschmissen worden, aus dem ganzen Leben. Und fragt: »Warum gehst du nicht spielen? Ist doch langweilig hier.«
    »Keine Lust«, murmelt der Junge und sieht Kurbjuweit mit ernsten Augen an.
    »Na«, sagt Kurbjuweit nur.
    Er klemmt sich die Zeitung unter den linken Arm und macht sich auf den Rückweg, wobei er versucht, so normal wie möglich die Treppe hochzusteigen.
    Wieder in der Wohnung, setzt er sich an den Küchentisch, wirft einen Blick gegenüber auf den Kontrollspiegel am Fenster, wie es seine Gewohnheit ist, und legt die Zeitung und das, was drin ist, auf den Tisch. Reklame vom Landhandel, vom Supermarkt, vom Möbelmarkt und vom Baumarkt in Hemmstedt, sie werben mit Tiefstpreisen, nur jetzt, null Prozent Finanzierung.
    Beim Möbelmarkt gibt es Z wanzig Prozent auf alle Couchtische, schöne Frauen sitzen auf Sofas und lächeln Kurbjuweit an. Aktion gesunder Rücken, eine nackte Frau zeigt sich von hinten, sie sieht nicht schlecht aus, nur der Arsch könnte breiter sein, so wie der von der Thielpapeschen. Nur ein paar Meter neben ihm greift Onkel Volli sich ein fettes Stück Fleisch aus dem saftigen Leben. Kurbjuweit hat keins, sein Leben ist mager und trocken, er lebt in der Wüste und er hat Durst.
    Polstermöbel. Darauf sollten Sie achten: Einstellung der Sitzhöhe, Einstellung der Sitztiefe, ausreichende Sitzbreite, ausreichende Höhe der Rückenlehne, individuelle Lendenstütze. Sinnvolle Zusatzfunktionen haben die Möbel: Neigungsverstellbare Rückenlehne, Sitzneigungsverstellung, variable Nackenstütze, Fußstütze bzw. Hocker, kombinierte individuelle Sitztiefen- und Höhenverstellung. 998,- Mark. Vielleicht würde so ein Sessel seinem Rücken helfen? Aber wie soll er sich das leisten, jetzt, nachdem Mutter tot ist und ihre Rente, die sie vom Vater geerbt hatte, mit ins Grab genommen hat? Im Wohnzimmer steht immer noch die Sitzgruppe, die Mutter vor fünzehn Jahren gekauft hat, nachdem sie aus dem Moor fortgezogen sind, wo sie zuvor gewohnt haben. Die Moorkate war baufällig geworden und das Reetdach so dünn, dass der nächste Sturm sein Ende bedeuten konnte.
    Kurbjuweit hat eines Herbsttages schon zwei alte Pferdeeggen hochgeschafft, mithilfe der wurmstichigen Holzleitern, von denen er zwei aneinanderbinden musste, um bis unter den First zu gelangen. Eine große Reparatur hätte sich nicht gelohnt, und dann hatten sie verkauft und waren umgezogen in diese Wohnung. Damals arbeitete Kurbjuweit noch im Betonwerk des Hauseigentümers, vor dessen dritter Pleite.
    Ursachen von Rückenschmerzen: angeborene organische Schäden, nein, das sind sie garantiert nicht, auch nicht falsche Bewegungsmuster – schon eher einseitige körperliche Belastung oder körperliche Schwerarbeit. Psychische Belastung , Stress, haha, diese Witzbolde, er, Horst Kurbjuweit, war doch kerngesund gewesen, bis man ihn fertiggemacht hat!
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