Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen
Autoren: Katharina Neuschaefer
Vom Netzwerk:
im Wald, und wieso wisst ihr es nicht?«
    »Niemand übertritt die Grenze des Eisenwalds«, schnarrte Hugin, »auch wir nicht. Und überhaupt: Wieso tust du es nicht selbst?«
    Odin wirbelte auf der Stelle herum und schnappte mit seinen großen Händen nach den Raben, die sich auf einer Stuhllehne niedergelassen hatten. Krächzend und schreiend flogen sie auf und flatterten hinauf zu den Dachbalken.
    Zornig blickte Odin ihnen nach.
    »Ich bin der oberste Gott. Meine Macht wächst mit jedem Atemzug, und ihr seid ein Teil davon. Dafür verlange ich Opfer!«
    Mit großen Schritten stolzierte Munin auf dem Dachbalken entlang und blickte mit schräg gelegtem Kopf auf Odin hinab.
    »Um wirklich mächtig und wissend zu werden, musst du vor allem selbst Opfer bringen ...«
    »Wovon redest du! Sprich nicht in Rätseln mit dem Herrscher der Welten!« Odin griff nach einem riesigen Trinkhorn, leerte es in einem Zug und schleuderte es auf den Boden.
    »Im Osten, ganz am Rande der Mittelwelt, liegt dasLand der Riesen«, fuhr Hugin fort, »dort wächst der Baum Yggdrasil. Er entspringt in der Düsternis Niflheims, doch er ist so mächtig und groß, dass seine Zweige und Wurzeln sich durch alle drei Welten erstrecken und sie miteinander verbinden.«
    »Ich kenne die Weltesche«, sagte Odin, »ist das alles, was du zu berichten hast, Rabenbraten?«
    »Höre weiter«, antwortete jetzt Munin, »drei Wurzeln hat der Baum, in jeder Welt eine, und an jeder von ihnen entspringt ein Quell. In Niflheim die Quelle Hvergelmir, in Asgards die Urd-Quelle, in der mittleren Welt aber sprudelt die Quelle des ewigen Wissens.«
    Kaum hatte der Rabe geendet, warf sich Odin schon seinen blauen Mantel um, setzte den Kriegshelm auf und eilte mit wehendem Bart aus dem Saal, um sofort nach Midgard hinabzusteigen.
    »Warte, Allvater«, rief Munin, der Verständige, »den Quell bewacht ein Riese, Mimir ist sein Name, und furchtbar ist er anzuschauen. Wer von der Weisheit trinken will, muss Mimir das Kostbarste geben, das er besitzt.«
    »Was immer es sein mag, ich werde aus dem Quell des Wissens trinken und wenn ich den Riesen dafür erschlagen muss.«
    Und damit stürmte Odin davon, verwandelte sich in einen Adler und flog hinab in die mittlere Welt. Der Wind trug ihn über das Reich der Menschen hinaus bis in die Wildnis Utgard. Er landete zwischen den haushohen Wurzeln des Baumes Yggdrasil und nahm seine göttliche Gestalt wieder an. Tiefe Nacht lag über dem Tal, als Odin sich umsah, aber es dauerte nicht lange, biser das Murmeln der Quelle hörte und dem Geräusch folgte. Dann, plötzlich, aus dem Rascheln der Zweige über ihm glaubte Odin ein qualvolles Stöhnen zu vernehmen. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit. Er musste sich getäuscht haben, denn außer dem Murmeln der Quelle und dem Geräusch des Windes in den Zweigen war nichts zu hören. Vorsichtig schlich er weiter, seine Sinne waren geschärft, wie die eines Raubtieres. Nach wenigen Schritten war es wieder da. Ein Ächzen und Seufzen wie unter großen Schmerzen, aber niemand war zu sehen. Odin war allein zwischen den Wurzeln der Weltesche. Lauernd blickte er um sich. Nichts. Das Gurgeln wurde lauter, und schließlich sah er die Quelle: Ein heller blauer Schein ging von dem sprudelnden Wasser aus und erleuchtete die Nacht. Unwiderstehlich fühlte sich Odin zu dem Quell hingezogen, getrieben von dem drängenden Wunsch zu trinken. Gerade als er seine Hand ins Wasser tauchen wollte, trat ein schrecklicher Riese aus dem Schatten des Baumes Yggdrasil hervor.
    Er war das hässlichste Wesen, das Odin je gesehen hatte, und Odin hatte vieles gesehen von seinem Wolkensitz aus. Der Riese war so groß wie ein Baum, hatte rot glühende Augen und lange gelbe Zähne.
    »Trink, wenn es dich nach Wissen dürstet«, sagte Mimir, der Wächter der Quelle, und Odin musste sich die Ohren zuhalten, so laut war seine Stimme, »aber sei gewarnt, ich fordere einen hohen Preis.«
    »Wenn du der weise Mimir bist, für den ich dich halte«, sagte Odin, »und von dem es heißt, er sei allwissend, dann weißt du sicher auch, wer vor dir steht.«
    »Gewiss«, antwortete der Riese, und der Boden bebte, »du bist der Allvater und gierst nach unendlicher Weisheit. Was aber gibst du mir für den Trunk?«
    »Ich kann dir Gold geben, so viel du willst, denn mein Reichtum ist unerschöpflich«, schlug Odin vor.
    »Dein Gold will ich nicht. Wissen ist weit kostbarer.«
    »Wie wäre es dann mit Macht oder Land. Oder sage du mir,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher