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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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Angleichung an die moderne Gesellschaft zu entrichten hatte.
    Zum einen erwies es sich, dass die etablierte katholische Sozialform dem innerkatholischen Drängen nach Autonomie und Selbstbestimmung nicht länger gewachsen war. Der Trend der Individualisierung und Pluralisierung erreichte namentlich die jüngeren Generationen. Das Anwachsen der konfessionell gemischten Ehe, seit jeher eine von der Amtskirche erbittert bekämpfte Regelverletzung, kann als untrügliches Indiz für das Vordringen individueller Entscheidungen gelten. Der Rückgang des Kirchenbesuchs und die Austrittswelle zwischen 1968 und 1973 wurden als weitere Anzeichen der vordringenden Säkularisierung verstanden.
    Vor allem aber hob zum anderen das Zweite Vatikanum (1962–1965) die gegenreformatorische Abgrenzung von der modernen Welt, die lange Zeit als «Betriebsunfall» der Heilsgeschichte stigmatisiert worden war, endlich auf. Damit ermöglichte es, von Vertretern des deutschen Amts- und Gemeindekatholizismus weiter unterstützt, eine prinzipielle Öffnung und den Anschluss an wichtige gesellschaftliche Strömungen der Gegenwart.
    Im Ergebnis führte diese innerkatholische Entwicklung zu einer drastischen Abschwächung der Front gegen den Protestantismus, der auch selber in jenen Jahren dem katholischen Rivalen schon längst nicht mehr mit hartnäckiger Militanz begegnete. Überhaupt lässt sich konstatieren, dass der orthodoxe Katholizismus durch den «Mangel an inneren Feinden» nachhaltig geschwächt wurde. An solchen Gegnern hatte er aber spätestens seit dem Ultramontanismus und Kulturkampf seine Widerstandskraft geschult, und der kommunistische Großfeind im Osten reichte als integrierendes Feindbild nicht aus, da der antikommunistische Konsens von allen Konfessionen und Klassen in der Bundesrepublik geteilt wurde, mithin nicht als katholisches Spezifikum stilisiert werden konnte.
    Der westdeutsche Protestantismus auf der anderen Seite litt unter dem Verlust seiner traditionellen Mehrheitsposition, insbesondere unter der Abtrennung der ostdeutschen Gebiete mit ihrer überwiegend evangelischen Bevölkerung. Beides traf in erster Linie den Nationalprotestantismus, der bis in die 60er Jahre hinein als Grundströmung noch mächtig blieb. Immerhin hatten auch seine Repräsentanten aus dem «Kirchenkampf» während des «Dritten Reiches» soviel gelernt, dass sie sich dem Projekt einer bikonfessionellen Christlichen Demokratie nicht in den Weg stellten, sondern es schließlich als zeitgemäßes Ergebnis eines schmerzhaften Lernprozesses unterstützten.
    Zwar tauchte in der Frühzeit der Bundesrepublik mit Gustav Heinemanns «Gesamtdeutscher Volkspartei» eine im Grunde rein protestantische Partei des Protestes gegen Adenauers Politik auf. Doch als sie bei der zweiten Bundestagswahl von 1953 ganze 1.3 Prozent der Stimmen gewann, trat die Aussichtslosigkeit dieser Opposition zutage. Die führenden Köpfe wechselten daraufhin mit den meisten GVP-Wählern zur SPD über. In Gebieten mit einer erstarkten katholischen Diaspora wurde die SPD oder, häufiger noch die FDP, von Protestanten gewählt, da diese Parteien das erwünschte Gegengewicht zur «schwarzen» CDU schaffen sollten. Aber von jenen tiefen Gräben, die noch in der Weimarer Republik das politische Verhältnis der beiden Konfessionen zueinander charakterisiert hatten, konnte keine Rede mehr sein, zumal die CDU als bikonfessionelle Volkspartei ihren eigenen Erfolgssog entfaltete. Umgekehrt wirkte, während immer mehr Katholiken in den Wissenschaftsbetrieb, in das Offizierkorps und in die höhere Verwaltung einrückten, der erbitterte Kampf, den der politische Katholizismus noch ein Vierteljahrhundert zuvor unter dem Banner der «Parität» gegen das protestantische Übergewicht geführt hatte, eigentümlich schal und überholt.
    Der Protestantismus hatte sich seit der Reformation ungleich bereitwilliger als die alte Kirche der neuen Zeit geöffnet, und dieses Arrangement hielt auch nach 1949 weiter an. Insofern kam er mit kraftvollen Strömungen müheloser als das katholische Milieu zurecht: etwa mit den Folgen der Urbanisierung und Entagrarisierung, der Konsumgesellschaft und der medialen Massenkultur, erst recht der Bildungsexpansion.
    Aber selbstverständlich veränderten diese mächtigen Modernisierungstrends das Leben in beiden konfessionellen Milieus. Auf diese Weise trugen sie auch dazu bei, die überkommenen Unterschiede abzuschleifen. Nach der Zeitspanne einer Generation hatten
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