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Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt

Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt

Titel: Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt
Autoren: Kai Meyer
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umliegenden Bäume. Die anbrechende Dunkelheit spannte Vorhänge aus Schatten zwischen den Stämmen. DeAriels Mörder konnte sich überall versteckt halten.
    Ich bezweifelte, daß selbst die Engelkrieger mit ihren geschulten Sinnen und übermenschlichem Geschick den Attentäter gefangen hätten, hätte er sich während der ersten Aufregung im Schutze des Abends davongestohlen. Einen Moment lang schienen sie uneins, ob es wichtiger sei, uns zu bewachen, oder sich auf die Jagd nach dem Mörder zu machen. Aufgeregte Worte in lateinischer Sprache wurden gewechselt. Zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, ließen ihre Waffen sinken und knieten sich neben DeAriel auf den Boden. Eine seltsame Wandlung schien mit ihnen vorzugehen. Der Disput wurde immer heftiger, schien sich zum ausgewachsenen Streit zu wandeln. Schon schöpfte ich neue Hoffnung, als einer von ihnen den übrigen zurief, ruhig zu sein. Darauf folgten lateinische Sätze, so schnell, daß ich nichts verstand.
    Die Engelkrieger drehten sich allesamt zu uns herum. Die Entscheidung schien gefallen – offenbar zu unseren Ungunsten. So sehr sie der Tod ihres Anführers DeAriel doch verstörte, so gebunden fühlten sie sich doch an seinen letzten Befehl.
    Ich hob mein Schwert, um ihnen trotz aller Sinnlosigkeit Widerstand zu leisten. Die anderen taten es mir gleich.
    Das Rauschen weiter Gewänder drang an mein Ohr. Das Geräusch kam von oben. Ich blickte auf, hoch in die Baumkronen über unseren Köpfen, und da sah ich sie.
    Angelina hockte sprungbereit im Geäst und blickte auf uns herab. In einer Hand hielt sie eine Armbrust, die auf einen der Engel zeigte, der sein Schwert gegen mich erhoben hatte. In der anderen lag ein zweiter Wurfdolch, ein Ebenbild jener Waffe, die DeAriel getötet hatte. Sie saß dort oben mit der Selbstverständlichkeit eines Vogels, der sich einen Moment der Ruhe gönnte. Sie hielt sich nicht fest, hockte vielmehr allein auf den Zehenspitzen auf einem Ast und behielt dabei mühelos ihr Gleichgewicht.
    Auch die Engelkrieger blickten voller Erstaunen nach oben. Fraglos erkannten sie ihre einstige Gefährtin wieder. Einer von ihnen rief Angelina etwas zu, doch sie schüttelte zur Antwort nur den verbrannten Kopf – und wirbelte mit einem einzigen, sicheren Sprung zu einem anderen Ast hinüber. Sie nahm dabei keine ihrer Hände zur Hilfe, stieß sich einfach mit den Füßen ab und flog mit wehendem Umhang über unsere Köpfe hinweg in die Krone des Nachbarbaums. Dort landete sie ohne zu schwanken und hatte innerhalb eines Herzschlages wieder Armbrust und Dolch im Anschlag.
    Da endlich begriff ich, wie das Mädchen damals in den Baum gelangt war, in dem Lady Lara und die Gaukler sie entdeckt hatten. Angelina war keineswegs vom Himmel gefallen, wie Gisbrand es vermutet hatte. Vielmehr mußte sie sich mit letzter Kraft, trotz ihrer furchtbaren Wunden, hinauf in die Äste geflüchtet haben. Der Grund dafür konnten nicht die übrigen Engel gewesen sein – die waren fertig mit ihr, hatten sie zum Sterben am Wegesrand liegengelassen. Es war eine gänzlich andere Furcht, die sie trieb, trotz aller Qual hinauf in den Baum zu steigen: Sie hatte Angst vor den Menschen, die sie finden mochten. Eine Angst, die größer war als die Hoffnung auf Hilfe. Es war dieselbe Menschenscheu, die auch die anderen Engel dazu trieb, sich im Wald abseits der Straßen zu verbergen und ihr Versteck nur auf ausdrücklichen Befehl zu verlassen. Die Kirche in Angelinas Zeichnung war nichts anderes als der Vatikan gewesen. Der Borgia mußt die Kinder vor dreizehn Jahren im tiefsten Keller vor der Menschheit verborgen haben, und seine Nachfolger hatten die Ausführung dieses Plans zu Ende gebracht. Dafür sprach auch die Bleiche ihrer Haut. Ich ahnte nun, daß die Engelkrieger mehr Angst vor uns verspürten als wir vor ihnen. Ihnen blieb allein ihre Schulung, die sie uns allen überlegen machte. Für nichts anderes hatten sie all die Jahre gelebt.
    Die Flut dieser Erkenntnis überkam mich in einem einzigen Augenblick. Angelina, die waffenstarrend oben in den Bäumen saß, hatte mir unbeabsichtigt den letzten Hinweis gegeben. Plötzlich glaubte ich, die fahlen Männer und Frauen besser zu verstehen. Und am besten von ihnen verstand ich Angelina.
    Als sie Faustus beim Anschlag auf die Wittenberger Kirche befreite, mußte sie zum ersten Mal eigenen Willen bewiesen haben. Dafür ließ DeAriel sie grausam durch die Hand ihrer Brüder und Schwestern bestrafen. Was immer sie ihr
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