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Die neue arabische Welt

Die neue arabische Welt

Titel: Die neue arabische Welt
Autoren: Annette Großbongardt
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die Araber keinen gemeinsamen Ausdruck für die einfachste, grundlegendste aller Richtungsangaben: geradeaus.
    So lehrt das Beispiel eines einzigen Begriffs eine nachhaltige Lektion. Wenige Völker, die kulturell so vieles teilen, unterscheiden sich in ihren Redewendungen, aber auch in ihren Ressentiments, ihrem Weltbild so stark voneinander wie die Araber.
    Als »tribes with flags«, Stämme mit Flaggen, werden sie vielfach bezeichnet. Was nach beduinischer Folklore klingt, ist in Wahrheit eine der historischen Ursachen für die arabische Malaise, welche die jungen Aktivisten in Tunis, Kairo, Manama und Sanaa heute überwinden wollen: die Selbstbezogenheit einzelner Clans. In nomadischer Vorzeit vielleicht ein Überlebensmechanismus, hat sie sich auf dem Weg in die Moderne als Fluch erwiesen.
    Das Stammesdenken hat verhindert, dass aus den meisten arabischen Staaten, die im letzten Jahrhundert nach und
nach die Unabhängigkeit erlangten, auch Nationen wurden. Im Irak, klagte etwa der von den Briten eingesetzte König Faisal 1931, gebe es gar »kein Volk, sondern eine unvorstellbare Masse von Menschen, jeder patriotischen Vorstellung abhold, getränkt von religiösen Absurditäten, durch keine Gemeinsamkeit verbunden, anfällig für die Anarchie«.
    Husni Mubarak (Ägypten, Anfang 2011),
Baschar al-Assad (Syrien, 2011)
    An dieser Entwicklung war der Westen nicht unbeteiligt – und nicht alle Verschwörungstheorien der arabischen Welt sind so absurd wie jene, die sich um die Hintergründe der 9/11-Anschläge drehen, oder die Behauptung, hinter jedem bedeutenden Ereignis in der arabischen Welt stecke der israelische Geheimdienst.

    Großbritannien und Frankreich, die in den Jahren 1915 bis 1925 die Grundlagen des modernen Nahen Ostens schufen, haben auf dem Gebiet des untergegangenen Osmanischen Reiches Grenzen gezogen, die ihren eigenen Interessen, nicht aber der Überlebensfähigkeit der so geschaffenen Staaten dienten. Die heutige Grenzlinie zwischen Syrien und dem Irak etwa geht auf ein Abkommen zurück, in dem Paris und London 1916 das Zweistromland und die Levante untereinander aufteilten. »Richtig behandelt«, schrieb der britische Geheimagent Thomas Edward Lawrence, der 1916 den arabischen Aufstand gegen die Osmanen entscheidend vorantrieb, würden die Araber »über das Stadium eines politischen Mosaiks nicht hinauswachsen, ein Gewebe kleiner, eifersüchtiger Fürstentümer, unfähig zum Zusammenhalt«.
    Genau so ist es gekommen, und am Ergebnis krankt die Region bis heute: Nur zwei Staaten der arabischen Welt verfügen über eine stabile, gewachsene Identität: das 5000-jährige Ägypten, dessen stolze Erben ihre Besucher aus den Golfstaaten herablassend »Araber« nennen, weil deren Ahnen schließlich erst vor 1400 Jahren am Nil auftauchten – und Marokko, dessen Königshaus immerhin seit dem 17. Jahrhundert regiert und seine Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückführt. Wie sehr es anderen Staaten an echter Staatlichkeit gebricht, erkennt man daran, wie aufdringlich etwa das junge »Haschemitische Königreich Jordanien« stets den Namen seiner alten Dynastie betont oder wie penetrant sich die Golf-Emirate Kuwait und Katar »Der Staat Kuwait« und »Der Staat Katar« nennen.
    Welche fatalen Folgen die willkürliche Gründung von Staaten wie dem Libanon und dem Irak mit ihren tiefen ethnischen und konfessionellen Bruchlinien haben sollte, haben jahrelange Bürgerkriege dort blutig bewiesen. Ähnliche
Konflikte könnten Libyen bevorstehen, noch schlechter ist die Prognose für den Jemen, dessen zahlreiche Krisen durch extreme Armut verschärft werden.
    Die arabische Welt hat nie ernsthaft den Versuch unternommen, ihre Probleme gemeinsam zu lösen – nicht die krassen Wohlstandsunterschiede, nicht die Jugendarbeitslosigkeit, nicht die Benachteiligung der Frauen. Die Geschichte der Arabischen Liga bestätigt dieses Versagen eindrucksvoll.
    Immer wieder schoben die Regime die Schuld an den Missständen dem Westen zu, am liebsten als imperialistische Verschwörung. Dass diese alten Feindbilder aber nicht mehr funktionieren, offenbarte sich etwa, als Syriens bedrängter Präsident Baschar al-Assad vergebens versuchte, die Proteste als Komplott des Auslands abzutun.
    Schon die ersten Monate des Umsturzes zeigen eine neue Tendenz – die ihren Ursprung gewiss nicht erst im Januar 2011 hat, sondern auf eine grundlegende Erfahrung der Globalisierung zurückgeht. Die jungen Aktivisten in Kairo, Tunis, Amman
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