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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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ich ablegen? Mit dem Ich lassen sich Selbstwertstörungen verschleiern oder besonders betonen. Gerade aufgrund der Defizite des Selbst bringen es manche Menschen zu hervorragenden Ich-Leistungen, etwa um das schmerzhafte Manko auszugleichen und vor anderen den Mangel zu verbergen. Alle herausragenden Leistungen im Sport, in der Wissenschaft, in der Kultur und Politik sind der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen verdächtig; denn nur die bittere Kränkung und der schmerzvolle Stachel der Selbstwertstörung liefern den Ehrgeiz, die Energie, im Grunde den Mut der Verzweiflung, um die Anstrengungen auf sich zu nehmen, großartige Leistungen zu vollbringen und unbedingt Sieger werden zu wollen.
    Die im Charakter geronnene Störung oder Einengung des Selbst kann durch besondere Ich-Leistungen gemildert, vertuscht oder aber auch besonders hervorgehoben werden. So wird ein «gütiger» Charakter sicher gute Erfolge in einem Helferberuf erzielen; er sollte darüber hinaus aber auch imstande sein, Grenzen zu setzen und sich egoistisch zu behaupten, um nicht in einen vorzeitigen Erschöpfungszustand zu geraten. Ein «musischer» Charakter bringt gegebenenfalls gute Voraussetzungen für künstlerische Gestaltungen mit und sollte möglichst keinen Beruf im bürokratischen oder administrativen Bereich wählen; aber er sollte Ich-Fähigkeiten erwerben, das rational Notwendige gut erledigen oder delegieren zu können, um nicht allzu abgehoben und versponnen die Realitätsanforderungen zu vergessen. Ein «verletztes» Selbst tobt sich gerne gewalttätig aus, kann vielleicht ein guter Boxer werden, sollte aber Selbstbeherrschung als Ich-Leistung erwerben und einen ethischen Wertmaßstab entwickeln, um nicht ständig Streit zu suchen und eine gewaltbereite und am Ende auch kriegslüsterne Einstellung zu entwickeln. Ein «gekränktes» Selbst kann nach Machtstrukturen streben, mit deren Hilfe Rache geübt und Kränkungen weitergegeben werden. Deshalb sind moralische Gewissensbildung und demokratische Kontrollmechanismen so wichtig, um Macht- und Führungsfunktionen zu regulieren.
    In der beschriebenen, vielfältigen Weise dienen Ich-Funktionen der Kompensation des gestörten Selbst oder der spezifischen Ausgestaltung der individuellen Lebensform. Das Ich ist veränderbar, beeinflussbar, entwicklungsfähig, dynamisch – das Selbst ist festgelegt und braucht Freiräume für seine Entfaltung und Kontrollmechanismen für seine Beherrschung, je nach seinem Reife- und Strukturniveau. Über die frühen Einflüsse, die das Selbst mit prägen, werden wir intensiv reflektieren und weiter forschen müssen; denn davon hängt die Lebenslust oder Lebenslast des Einzelnen und die Zukunft der Gesellschaftsentwicklung ab. Aber alle kompensierenden Ich-Funktionen können am Ende die Wirksamkeit des Selbst nicht wirklich verhindern oder verändern.
    Der narzisstisch bestätigte Mensch ruht in sich und schwingt im Kommen und Gehen der eigenen Bedürfnisse, die er angemessen zu befriedigen, zu modifizieren oder zu verschieben versteht; hingegen bleibt der narzisstisch gestörte Mensch in ständiger Unruhe, Spannung und Unzufriedenheit, getrieben vom Wunsch nach echter Erfüllung, die schon längst auf immer verloren ist. Die Suche nach dem verlorenen Glück schafft Abenteurer, Pioniere, Entdecker und formt berühmte Persönlichkeiten. Die besonderen Erfolge der sekundären Ich-Leistungen erschweren aber die Bewertung der ungewöhnlichen Anstrengungen, die in ihrer Last und Not meistens nicht mehr erkannt und auch mit den häufig fragwürdigen und destruktiven Folgen ihres Schaffens nicht mehr in Verbindung gebracht werden. So hat noch jeder «Fortschritt» ungeahnte und unbeabsichtigte neue Probleme und Störungen hervorgerufen, die als Schatten des unerkannten narzisstischen Antreibers verstanden werden können.
    Gegenwärtig müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie die hoch gepriesene Atomenergie zum zerstörerischen Fluch geworden ist. Wir haben erkennen müssen, wie Antibiotika dazu beitragen, neue gefährlichere Bakterien zu züchten. Die Freude an der Mobilität durch Autos und Flugzeuge wird durch das Abgasproblem getrübt, die moderne Pflanzen- und Tierproduktion vernichtet den natürlichen Kreislauf, vergiftet die Produkte und tötet Arten, der Informationsreichtum der computervernetzten Welt überreizt das Nervensystem, lässt die natürliche Neugier und Entdeckerfreude erlahmen, fördert Abhängigkeit und Süchtigkeit und produziert neue
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