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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten
Autoren: Glenn Cooper
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errichtet worden war. Die blaue Steinplatte, die sein Grab bezeichnete, war mit einer schlichten eingemeißelten Inschrift versehen: Sankt Josephus , Anno Domini 8oo .
    In den fünfhundert Jahren, die seit Josephus’ Tod verstrichen waren, hatte sich Vectis Abbey sehr verändert. Durch die Hinzunahme vieler umliegender Felder und Wiesen hatten sich die Grenzen der Abtei stark erweitert. Eine hohe Steinmauer mit Tor und Fallgitter umgab jetzt die gesamte Anlage und diente als Schutz vor den französischen Piraten, die auf der Insel und an der Küste von Wessex auf Raubzug gingen. Der anmutige, spitz zulaufende Turm der Kathedrale, einer der schönsten auf den ganzen Britischen Inseln, ragte hoch in den Himmel. Mehr als dreißig solide Steingebäude, darunter die Dormitorien, der Kapitelsaal, die Küchengebäude, das Refektorium, die Vorratshäuser, die Brauerei, die Krankenstube, das Gästehaus, das Skriptorium, das Haus des Abts, und sogar die Stallungen waren durch überdachte Wandelgänge und Korridore miteinander verbunden. Die Kreuzgänge, Höfe und Gemüsegärten waren weitläufig und wohlangelegt. Darüber hinaus gab es einen großen Friedhof, und auf einer etwas weiter abgelegenen Parzelle einen Bauernhof mit Getreidemühle und eine Schweinezucht. Insgesamt versorgte das Kloster fast sechshundert Menschen auf dem Gelände, womit es die zweitgrößte Ansiedlung auf der Insel war. Es war ein leuchtendes Vorbild der Christenheit, das es an Berühmtheit mit Westminster, Canterbury und Salisbury aufnehmen konnte.
    Die Bevölkerung der Insel war ebenfalls gewachsen, und der Wohlstand hatte zugenommen. Nach der Schlacht von Hastings im Jahr 1066 und der Eroberung Englands durch Wilhelm, den Herzog der Normandie, kam die Insel unter normannische Herrschaft und streifte endgültig die Verbindung zum heidnischen Skandinavien ab. Der alte römische Name Vectis wurde aufgegeben, und die Normannen nannten die Insel jetzt Isle of Wight. Wilhelm schenkte sie seinem Freund Wilhelm FitzOsbern, der zum ersten Lord der Isle of Wight wurde. Unter dem Schutz von Wilhelm dem Eroberer und den englischen Königen, die ihm nachfolgten, wurde die Insel zu einer starken Festung gegen die Franzosen ausgebaut. Von ihrer wehrhaften Burg Carisbrooke Castle in der Mitte der Insel aus regierten die Lords der Feudalzeit über die Isle of Wight und befestigten ein spirituelles Bündnis mit ihren Nachbarn, den Mönchen von Vectis Abbey.
    Der letzte Herr der Isle of Wight war kein Mann, sondern eine Frau. Die Countess Isabella de Fortibus hatte nach dem Tod ihres Bruders im Jahr 1262 den Titel eines Lords angenommen. Durch die Erträge aus ihren Ländereien und die Schiffssteuer, die sie erhob, wurde die immerzu mürrische, unansehnliche Isabella zur reichsten Frau Englands. Da sie einsam, reich und gläubig war, schmeichelte ihr Edgar, Baldwins Vorgänger als Abt von Vectis, und auch Baldwin selbst. Sie beteten für Isabellas Seelenheil und vererbten ihr prachtvoll ausgestattete Manuskripte. Isabella wiederum gab außerordentlich großzügige Spenden an die Abtei und wurde ihre wichtigste Stifterin.
    Im Jahr 1293 wurde Baldwin selbst an ihr Sterbelager in Carisbrooke gerufen, wo sie ihm in ihrem zugigen Schlafgemach mit matter Stimme mitteilte, dass sie die Insel an König Edward verkauft und somit die Herrschaft in die Hände der Krone übergeben habe. Er müsse sich fortan einen anderen Schirmherrn suchen, beschied sie ihm herablassend. Dennoch segnete er sie, wenn auch etwas widerstrebend, als sie ihren letzten Atemzug tat.
    Die vier Jahre seit Isabellas Tod waren für Baldwin eine große Herausforderung gewesen. Durch die jahrzehntelange Abhängigkeit von ihr war das Kloster nicht für eine andere Zukunft gerüstet. Die Bevölkerung von Vectis war so gewachsen, dass sich die Abtei nicht mehr selbst versorgen konnte, sondern auf Zuwendungen von außerhalb angewiesen war. Daher musste Baldwin häufig die Insel verlassen und wie ein Bettler bei Earls und Lords, Bischöfen und Kardinälen vorstellig werden. Aber er war im Umgang mit hohen Herrschaften nicht so geschickt wie sein Vorgänger Edgar, ein leutseliger Mann, der von jedermann, ja selbst von den Hunden geliebt worden war. Baldwin dagegen war eher kühl und unzugänglich, ein fleißiger Verwalter, der seine Hauptbücher mit einer Leidenschaft führte, die ebenso groß war wie seine Liebe zu Gott, der jedoch nur wenig Zuneigung für seine Mitmenschen aufbrachte. Er schätzte sich
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