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Die Nacht von Granada

Die Nacht von Granada

Titel: Die Nacht von Granada
Autoren: Brigitte Riebe
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weit und breit niemand zu sehen. Außerdem sterbe ich halb vor Hunger.«
    Sie packte den mitgebrachten Korb und trug ihn nach draußen. Nuri folgte ihr in einigem Abstand.
    Weil sie so überstürzt von zu Hause aufgebrochen waren, um lästigen Fragen zu entgehen, hatten die Mädchen hineingestopft, was immer sie auf die Schnelle finden konnten: viereckige Küchlein, die nach Hanfsirup schmeckten, eine Handvoll kandierter Früchte, mehrere Zuckermandelstangen, winzige, dick mit Zucker überzogene Brezeln aus Honigpfannkuchenteig, aber auch gebratene Hühnerbeine, gefüllte Artischocken und vor allem einen kleinen Topf, gefüllt mit Djamilas berühmtem Mandelreis, von dem die Familie niemals genug bekommen konnte.
    Während Lucia genüsslich zu kauen begann, beobachtete sie, wie die Freundin ruhig dasaß und lediglich den Kopf langsam drehte und wendete. Plötzlich begriff sie, was in ihr vorging. Es musste sich befreiend und beängstigend zugleich für Nuri anfühlen, endlich wieder einmal den Wind in den offenen Haaren zu spüren! Aber auch Lucia genoss den weichen Stoff der maurischen Kleidung, wo nichts eng war und einschnürte.
    Als hätte sie Lucias Gedanken gespürt, senkte Nuri plötzlich den Blick. »Wir müssen verrückt geworden sein«, sagte sie leise. »Rashid würde mich umbringen, könnte er uns so sehen. Keine Ahnung, was ihn so aufstachelt, aber er gerät von Woche zu Woche immer schneller außer sich.«
    Jetzt hätte Lucia sich beinahe verschluckt.
    Rashid – musste Nuri ausgerechnet jetzt diesen Namen erwähnen? Tagsüber gelang es ihr einigermaßen, ihrer inneren Unruhe Herr zu werden. Doch wenn es dunkel wurde, war es damit vorbei. Sobald Rashids Name fiel, schien jeder Tropfen Blut, den Lucia besaß, ohne Umwege in ihr Herz zu strömen. Kein anderer in ganz Granada* hatte solch schlehenfarbene Augen, umrahmt von Wimpern, lang und dicht wie bei einem Mädchen. Ein schmales, stolzes Gesicht. Die Brauen so kräftig, dass sie über der leicht gekrümmten Nase fast zusammenstießen. Glattes, pechschwarzes Haar, das er immer wieder mit beiden Händen in einer ungeduldigen Geste nach hinten strich.
    Jedes Mal wenn Nuris großer Bruder sie ansah, fühlte Lucia sich plötzlich hässlich und klein. Dabei kannte sie ihn, seitdem sie lebte, doch all die Jahre zuvor war er für sie nichts als ein Teil jener Familie gewesen, die untrennbar zu ihrer gehörte, und sie hatte sich nicht weiter den Kopf über ihn zerbrochen. Damals hatte er für sie mit seinen geschickten Händen kleine Tierfiguren aus Pappelholz geschnitzt, mit denen sie stundenlang spielen konnten. Irgendwo im Haus mussten in einer alten Kiste noch Reste davon übrig sein.
    Doch in diesem Sommer war alles anders geworden, und sie hätte nicht einmal genau sagen können, weshalb. Plötzlich konnte Lucia nicht mehr aufhören, an Rashid zu denken. Wenn er nicht da war, sehnte sie sich mit allen Fasern ihres Körpers nach seiner Gegenwart, und sobald sie ihn wieder zu Gesicht bekam, brachte sie keinen anständigen Satz mehr heraus. Dass ihre Elternhäuser sich, wie die Bäuche zweier hochschwangerer Frauen, über der engen Gasse beinahe berührten, machte die Sache nur noch schlimmer.
    Sie konnte ihm nicht aus dem Weg gehen.
    Lucia war dazu verdammt, Rashid täglich zu begegnen. Auch wenn Nuris Bruder seit einiger Zeit so tief in Gedanken verstrickt schien, dass er sie kaum wahrnahm.
    »Was ist los mir dir?« Nuris rundes Gesicht wirkte sorgenvoll. »Du bist ja auf einmal ganz blass geworden. Bekommen dir die Leckereien heute etwa nicht?«
    Jetzt hatte Lucia plötzlich das Gefühl, als wäre ihr Mund mit zerstoßenem Glas gefüllt. Bislang hatte sie ihrer besten Freundin noch nichts über den Aufruhr in ihrem Herzen verraten. Doch wie lange würde sie ihr Geheimnis noch für sich behalten können?
    Das Wiehern des Maulesels enthob sie einer Antwort, denn es klang auf einmal so nah, dass die Köpfe beider Mädchen herumfuhren.
    »Haben wir euch gerade gestört? Dann vergebt uns bitte, edle Seňoritas«, sagte eine fröhliche Männerstimme in reinstem Kastilisch. »Zu meinem Bedauern verfügt meine brave Rosita nicht immer über die allerbesten Manieren!«
    Lucia und Nuri schauten misstrauisch an ihm hoch. Ein junger Mann, langbeinig und schlank, grinste zurück. Er trug ein weites Hemd, ein offenes Wams und seltsame Beinkleider aus unregelmäßigen, alles andere als kunstvoll zusammengenähten Lederstücken, die ein schmaler Gürtel zusammenhielt, an
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