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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Baker
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der Wand am einen Ende, spürte, wie ihn plötzlicher Schwindel überkam, und klammerte sich wieder an der Kiste fest.
    Eine Weile lang stand er gebeugt da, um seinen Muskeln Gelegenheit zu geben, sich wieder an sein Gewicht zu gewöhnen. Dann nahm er den Schmerz tief in seinem Inneren wahr. Die Anstrengung der letzten Stunden hatte seinen schlummernden Hunger geweckt. Sein Magen krampfte sich zusammen, und Übelkeit beutelte ihn. Er würde Nahrung aufnehmen müssen, und dies bald, um wenigstens den Schatten von Kraft zu bewahren, den er noch besaß.
    Er schüttelte sich leicht und griff nach dem verborgenen Mechanismus, der ihn vor Jahren hier eingeschlossen hatte. Einen Augenblick lang dachte er, dass auch die Wand sich nicht öffnen würde, aber dann setzte sich der interne Mechanismus ächzend in Bewegung und gab den Weg frei nach draußen in das abgedunkelte Lagerhaus.
    Er trat hinaus in das verlassene Obergeschoß und verspürte einen Schub neuer Kraft, als ihm frische Luft ins Gesicht schlug. Dieser Teil des Lagerhauses war leer gewesen, als er sich eingeschlossen hatte, und dies war auch jetzt noch so, wenn man von den schweren eisernen Flaschenzügen und Winden absah, die wie die Rippen eines Skeletts von der Decke hingen. Die großen Fenster, die eine Wand säumten, waren schmutzverkrustet und geschwärzt, aber das schwache Mondlicht kroch dennoch durch die schmalen Fugen, um sich wie ein schimmerndes Netz über den schmutzigen Boden zu breiten. Er trat in einen dieser fahl leuchtenden Strahlen und atmete das silberne Licht ein.
    Mit geschlossenen Augen hob er sein Gesicht dem schwachen Schein des Himmels entgegen, dann dehnte er langsam sein Bewusstsein aus, tastete nach irgendeinem Funken Leben, irgendeinem winzigen Herzschlag in der Leere des oberen Lagerhauses. Dort, ja dort … Er spürte ein schwaches Pulsieren und das trübe Bewusstsein eines Nagerhirns. »Komm«, hauchte er, ein trockener, staubiger Laut. »Komm.«
    Die Ratte fiepte nervös, und der schrille Ton hallte in seinen Ohren, aber dann schlich sie von der Wand weg und trippelte durch das Meer aus Staub auf ihn zu. Er sah ihr entgegen und beugte sich dann vor, um das Tierchen auf seine Hand kriechen zu lassen. Einen Augenblick lang starrten die winzigen schwarzen Augen zu den seinen hinauf, und er sah sich selbst durch die Augen der Ratte, eine schwindelerregende Vision eines grauen Monsters mit verzerrtem Gesicht und glühenden Augen, fast verdeckt von aschfarbenen, wirren Haarsträhnen.
    Ekel überkam ihn, aber der Hunger war um vieles stärker, und das warme, in seinen Händen pulsierende Leben eine zu große Versuchung. Er ertränkte seinen uralten Widerwillen in einem noch älteren Akt.
    Einen Augenblick später ließ er den leblosen Körper fallen und kauerte sich keuchend zusammen. Das Blut der kleinen Kreatur rann ihm wie Feuer die Kehle hinab und durch seine Adern. Es war süß, so unendlich süß …, reichte aber nicht im Entferntesten aus, um den qualvollen Hunger zu stillen, den er empfand. Vielmehr hatte die kurze Befriedigung sein Bedürfnis nur noch gesteigert.
    Er wischte sich übers Gesicht, leckte geistesabwesend die verschmierten Finger ab und starrte wieder ins Mondlicht, dessen quecksilberner Schein jetzt heller geworden war. Wie lange hatte er in der Kiste verbracht, fragte er sich. Mehr als fünfzig Jahre, schätzte er, aber vielleicht weniger als hundert. Er stand auf und ging langsam zu der Treppe, die ins Erdgeschoß des Lagerhauses hinunterführte. Das rissige Leder seiner Stiefel ächzte bei jedem Schritt; der Fußboden warf das Geräusch als Echo zurück und erzeugte einen dröhnenden Nachhall in seinem Kopf. Er setzte dazu an, die Treppe hinunterzusteigen, sich am Geländer festklammernd, wann immer ihm wieder schummrig wurde.
    Auf halbem Wege erkannte er, dass er nicht alleine im Lagerhaus war. Herzschläge dröhnten wie Donner in seinem Schädel, Atemzüge brausten orkanartig in seinen Ohren … die Empfindungen durchfluteten sein Bewusstsein mit einer Kraft, die ihn erschütterte. Mehr als einer, mehr als zwei … das war alles, was seine verwirrten Sinne einen Augenblick lang erfassen konnten. Dann hob er den Kopf und konnte sie sehen, grell und heiß in seiner Nachtsicht. Sie standen am anderen Ende des leeren Lagerhauses beisammen, drei an der Zahl, und beugten sich über eine Maschine, die in seinen überempfindlichen Ohren zum Wahnsinnigwerden summte.
    Halt dich fern, warnte seine Vernunft, sie sind
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