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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Autoren: Alexia Casale
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Zeigefinger unter dem linken Daumennagel. »Er hat das mal im Scherz gesagt, obwohl ich ihn damals nicht ganz verstanden habe. Er hat erzählt, dass sie durchgebrannt seien, um zu heiraten, als wäre sie eine Prinzessin und er ein Tagedieb. Und dass Fiona auf dem Weg zum Standesamt ständig über die Schulter geschaut hat, als würde man sie verfolgen.«
    »Vielleicht hat sie schon damals nicht mehr geglaubt, ihren Eltern jemals entkommen zu können.«
    »Sie ist ihnen ja auch nicht entkommen. Er hat sie gerettet.« Das Blut auf meiner Zunge schmeckt wie Säure, als ich es runterschlucke.
    »Glaubst du, dass dein Vater über Fionas Eltern Bescheid wusste?«, fragt Miss Winters, und ich ahne, dass sie sich in diese Sache verbissen hat. Sie wird erst ablassen, nachdem sie alles gesagt hat, was ihr durch den Kopf geht, jede Frage gestellt hat, die sie beschäftigt. Wie im Unterricht, wenn sie möchte, dass wir von selbst auf eine wichtige Erkenntnis kommen, und uns immer weiter drängt und zerrt, bis wir endlich begreifen.
    »Er hat sie wahrscheinlich nur als überbehütend empfunden. Als kontrollwütig. Er hat meine … Fionas Mutter gehasst.« Ich merke, dass sich meine Lippen zu einem höhnischen Grinsen verziehen. »Warum auch nicht? Er fand sie einfach schrecklich. Schrecklich primitiv.«
    Ich würde Miss Winters gern fragen, ob mein Vater wusste, was uns bevorstehen würde, falls ihm etwas passieren sollte, aber das bringe ich nicht über mich. Vielleicht wusste er nicht genau über Fionas Eltern Bescheid, aber er muss geahnt haben, wie schwach sie selbst war. Und er raste trotzdem auf seinem Motorrad durch das Marschland, immer auf diesen schmalen Straßen, bis er in einem Wassergraben endete. Fiona konnte ihn bestimmt nicht davon abhalten. Sie hat es vermutlich gar nicht erst probiert. Ich frage mich manchmal, ob sie ihn je bat, dazubleiben oder wenigstens nicht so schnell zu fahren, ihn anflehte, sich zu überlegen, was geschähe, wenn wir ihn verlieren würden. Denn sie wusste ja, was passieren würde, wenn er sie nicht mehr beschützen konnte.
    Da gleitet mein Zeigefingernagel tief unter den Nagel des linken Daumens und stemmt ihn hoch. Ich lutsche am Daumen, und das Blut vermischt sich mit Speichel, wird zähflüssig und süß, ein Geschmack, der förmlich auf meiner Zunge explodiert.
    Nachdem ich mit dem Gefühl, betrachtet zu werden, im Dunkeln erwacht bin, rolle ich mich lächelnd auf die Seite.
    Der Drache breitet die Schwingen aus, als wären diese steif nach dem langen Tag in der Glasflasche.
    »Soll ich dich tagsüber in meinem Zimmer lassen?«, frage ich, als ich aus dem Bett steige, um mich anzuziehen. Ich brenne vor Ungeduld, weil ich in die Nacht hinauswill.
    Der Drache reckt sich noch weiter, dann senkt er die Brust, spannt die Oberschenkel an, breitet die Schwingen aus und zuckt mit dem Schwanz. Wie du möchtest.
    Als geschnitztes Knochenstück wirkt der Drache rosig, aber wenn er zu Fleisch und Blut geworden ist, glänzt er weißlich und bläulich wie der Mond.
    »Wohin geht es heute Nacht?«, frage ich, als ich den Drachen auf meine Schulter setze und das Fenster aufstoße. Ich lehne es an, damit Amy und Paul keinen Luftzug im Flur spüren, wenn sie nachts erwachen. Ich werde das dumme Gefühl nicht los, dass alles aus und vorbei wäre, wenn sie mich bei einem meiner Drachenträume erwischen würden. Und ich will nicht, dass es aus ist. Noch nicht, denn es hat ja gerade erst begonnen. Also richte ich mein Bett so her, dass es den Anschein erweckt, als würde ich noch darin liegen, obwohl ich weiß, dass es nur ein Traum ist und sie wegen meines leichten Schlafes nicht nach mir schauen werden.
    Ich steige von der Gartenmauer und laufe über die Wiese und durch den Wald zum Fluss. Auf dem Treidelpfad bleibe ich kurz stehen und werfe einen Blick nach links. Sieben Meilen …
    Wir gehen nach rechts , befiehlt der Drache.
    Am Flussufer schwankt das Schilf, als ein Tier mit schrillem Schrei über ein anderes Tier herfällt. Dicke Wolken verhüllen den Mond, und der aufsteigende Nebel ist im Dunkeln nicht weiß, sondern grau und grün und blau. Er ballt sich auf dem Marschland, treibt in Schwaden auf mich zu, mal schneller, mal langsamer – umwirbelt mich, hüllt mich ein. Kühlt meine Wangen. Streichelt mein Haar. Dann weicht er zurück, und die Luft ist für einen Augenblick klar, trübt sich aber gleich wieder ein, wirft silberne Fäden nach mir aus, bis ich das Gefühl habe, von Spinnweben
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