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Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Titel: Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
Autoren: Wolfgang Bödeker
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kann."
    "Vielleicht gibt es aber verschiedene Arten von Tod" erwiderte Eckhardt, mit etwas leiser werdender Stimme, "vielleicht ist einer ja ganz anders tot, wenn er verhext, als wenn er von einem Auto überfahren wurde und vielleicht wissen wir gar nicht, was Objektivität überhaupt ist, vielleicht ist sie nur eine Frage des Standpunktes und es geht darum, den Standpunkt zu wechseln. 'Objektivität' ist doch nicht mehr als ein Komplex von Vorstellungen, die wir uns über die Welt machen, die aber nicht die Welt selbst sind."
    Das hatte Elaine beeindruckt. Es hörte sich überzeugend an, und so hatte sie den Begriff der Wirklichkeit noch nie betrachtet, ihr war er immer als die Ausgangsbasis ihrer Überlegungen erschienen. Unbefragt . Und Wirklichkeit war, was sie sehen konnte. Wenn sie aber nur sah, was sie glaubte zu sehen? Dies hier lies ihre Lektüren über die magischen Vorstellungen fremder Völker in eine ganz andere Bedeutung kippen, sie begann zu ahnen, dass ihr ein Bewertungskriterium entglitt, welches ihr Sicherheit in ihren Vorstellungen gegeben, sie aber auch eingeengt hatte. Der Begriff der Wirklichkeit, wie sie ihn kannte, verwandelte den Zauber, den sie manchmal bei den Beschreibungen der Ethnologen verspürte, in staubige Buchhaltung. Dagegen öffneten sich Welten, wenn sie daran dachte, dass all die seltsamen Bräuche und Mythen, mit denen sie sich täglich beschäftigte, auch eine Art der Wirklichkeit waren.

 
    ***

 
    Während sie sich Frühstück zubereitete, klopfte es an der Wohnungstür. Sie öffnete. Ihre neue Nachbarin stand vor ihr im Halbdunkel des Flures. Dunkelblond, eher klein, mit normaler Figur und eigentlich wohl recht hübsch, aber dicke Ränder unter den Augen und eine ins gräuliche gehende Hautfarbe ließen Elaine vermuten, dass sie irgendeine Krankheit hatte.
    "Hallo, ich bin Marion, ich wohne nebenan, kannst du mir helfen?" fragte sie mit einem leicht quengeligen Unterton, "ich hab da so'n Schrank, den schaff ich einfach nicht ins Wohnzimmer zu schieben. Kannst du mir helfen?"
    Sie blickte, zwischen flehentlich und trotzig schwankend, Elaine an.
    "Klar ," antwortete Elaine, "ich komme sofort rüber, ich mach nur eben die Kaffeemaschine aus."

 
    ***

 
    In der Wohnung sah es wüst aus. Gleich im Flur lag Wäsche durcheinander auf einem Haufen, die Wände waren tapeziert, hatten aber noch keine Farbe gesehen. Ein kurzer Blick rechts in die Küche offenbarte ein Biotop für Schimmel und Ungeziefer. Haufen benutzten Geschirrs türmten sich in der Spüle, die Abfalleimer quollen über, Wein-, Bier- und Sektflaschen standen unter dem Küchentisch.
    Die Nachbarin bemerkte Elaines Blick.
    "Ich bin ja gerade erst eingezogen."
    Aha, dachte Elaine, wie hast du es dann geschafft, alles schon so prächtig zu versauen?
    Aber sie sagte nichts. In Wirklichkeit wohnte Marion Graf, Elaine hatte das mit krakeliger Schrift versehene Klingelschild bemerkt, schon einige Wochen hier.
    Dem Wohnzimmer ging es auch nicht besser, wie Elaine an besagtem Schrank, der sich zwischen Flur und Wohnzimmer in der Tür verkeilt hatte, vorbei sehen konnte.
    Ikea-Landschaft nach Bombenangriff, dachte sie.
    Gemeinsam befreiten sie den Schrank, wuchteten ihn ins Wohnzimmer und schoben ihn an die Wand. Als Elaine neben ihre Nachbarin treten wollte um ihr Werk zu betrachten, rückte diese von ihr ab einen Schritt nach links. Offenbar wollte sie keinen direkten Kontakt.
    "Danke für deine Hilfe" sagte sie, "möchtest du was trinken? Ich hab auch Kaffee hier."
    Warum nicht, dachte Elaine, man musste sich ja kennen lernen.
    "Ja, gern."
    Marion machte einen leichten Halbbogen um Elaine herum, sichtlich bemüht, Berührung zu vermeiden, und verschwand im Flur. Elaine setzte sich auf eine Ecke der abgenutzten Sitzlandschaft. Es klapperte in der Küche und kurze Zeit später kam die Nachbarin mit einem Tablett mit Kaffee, Keksen, halben Brötchen und zwei Gläsern Orangensaft herein. Sie stellte das Tablett auf den Tisch vor Elaine hin, nahm sich ihren Orangensaft und setzte sich in einiger Entfernung ebenfalls.
    "Du hast doch noch nicht gefrühstückt ..." sagte sie und deutete mit den Händen eine Entschuldigung an.
    Elaine bemerkte, dass die viel zu vielen halben Brötchen mit Wurst, Käse und Schinken belegt und sogar mit Petersilie und kleinen Radieschenscheiben garniert waren.
    "Ja, danke." sagte sie zögernd, von dem offensichtlichen Gegensatz zwischen dem schlampigen Aussehen der Wohnung und der Mühe, die
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