Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut
Autoren: Hans Waal
Vom Netzwerk:
unbehagliches Schweigen machte sich breit.
    Wenn ihr der Chef ein »größeres Stück« versprochen hatte, war das tatsächlich eine seltene Chance für ein »Küken«, so selten wie größere Stücke im Programm von Kanal 5 überhaupt. Niemand wusste das besser als Busch, der sich darüber sonst immer gern bei Matti beklagte. Als wenn es darauf ankäme! Groß oder klein, Feierabend oder nicht. Hauptsache, es wurde bezahlt. Um die Idee mit den Taschentüchern beneidete ich Busch dennoch, jedenfalls im ersten Moment. Umständlich hatte er ein Päckchen Tempos aus seiner Jacke gekramt. Sie sahen nicht mehr ganz frisch aus, aber immerhin: Wenn er sie diskret über den Tisch geschoben hätte, wäre vielleicht eine ganz nette Geste daraus geworden. Wie er sie ihr jedoch hinwarf, war es genau das Gegenteil: der blanke Hohn.
    Jenny sprang sofort auf, griff nach einem Schlüssel und kippte absichtlich ihr Schnapsglas um. Wortlos stapfte sie zur Theke, neben der eine Treppe nach oben führte und ein Lötkolben-Brettchen den Weg zu den Gästezimmern wies. Ein dünnes Rinnsal Schnaps bahnte sich den Weg über unseren Tisch und tropfte auf Buschs Hose. Er drehte sich nach den anderen Gästen um, grinste schief und breitete eins der Taschentücher über der Schnapslache aus. Fast sah er ein wenig verlegen aus.
    »Schade um den Schnaps. Was hat sie denn auf einmal?«
    »Was sie hat? Mann, das war vielleicht ihr erster Beitrag - er wäre es zumindest gewesen!«
    »Wusste ich doch nicht - ist natürlich auch schade.«
    »Schade? Du bist manchmal ein ganz schöner Arsch!«
    Das war untertrieben, aber auch ganz schön mutig für meine Verhältnisse. Busch bestellte trotzdem noch zwei Runden. Jennys Zigeunersteak teilten wir uns. Und damit du gleich Bescheid weißt, Evelyn - das stand wörtlich so in der Karte!
    Eins kannst du mir glauben, mein Lieber: Ganz sicher waren es nicht die rassistischen Speisekarten in irgendwelchen Brandenburger Dorfkneipen, die mir den Schlaf raubten. Aber auch das soll natürlich keine Entschuldigung dafür sein.
    Seit Wochen ging das schon so, jede Nacht: Ich lag steif auf dem Rücken, starrte auf die Tapete meiner Zimmerdecke und konnte das in guten Nächten - wunderbar geborgen - sogar genießen. Wann sonst heutzutage fühlt sich Zeit noch so intensiv an? Nicht mal mein Telefon konnte mir hier etwas anhaben. Ich ließ es einfach klingeln und rührte mich nicht. Tagsüber hätte ich das im Leben nicht geschafft. Schlaf gehörte zu den wenigen Dingen in meinem Leben, die sich noch nie hatten erzwingen lassen. Die Angst vor dem Telefon war hingegen neu, wenn auch nicht weniger lächerlich für eine Frau knapp über 40. Letztlich zählte auch noch die Klingelmelodie meines Handys zu diesen Peinlichkeiten, aber für Greensleeves war ich wenigstens voll und ganz verantwortlich.
    Nach »and who but my« hatte der Anrufer aufgegeben, noch mitten im Refrain, und fast ein wenig stolz summte ich die Melodie zu Ende. Wie immer schätzte ich die Zeit, bevor ich auf die Uhr sah, und glaubte fest daran, das hätte irgendeinen Einfluss: je genauer die Schätzung - desto besser für mich. Manchmal koppelte ich sogar ein Omen für den nächsten Tag an diesen Aberglauben, genau wie früher, als die Klassenarbeit schon so gut wie geschrieben war, wenn ich es schaffte, auf dem Schulweg kein einziges Mal die Fugen zwischen den Gehwegplatten zu betreten. Damals funktionierte das noch ausnahmslos. Erst wenn die Regeln mit einem erwachsen werden, braucht man ständig Ausnahmen zur Selbstbestätigung. Aber eins galt nach wie vor: Man durfte auf keinen Fall darüber reden, nicht über diese kleinen Tricks und erst recht nicht über Gefühle. Vielleicht war das die wichtigste Regel überhaupt.
    Ich hatte mich für vier Uhr und zehn Minuten entschieden. Ein Auto donnerte über das Kopfsteinpflaster der Pappelallee. Sein Scheinwerferlicht huschte durch mein Schlafzimmer und über die Zeiger an meinem Handgelenk. Es war noch nicht mal drei. Selten lag ich so daneben. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich in letzter Zeit auch keine einzige Fuge ausgelassen.
    Schwer plumpste mein Arm zurück auf die Bettdecke. Aus der Kneipe gegenüber drang Gelächter. Noch immer widerstand ich dem Drang, das Handy vom Nachttisch zu reißen und die Mailbox abzuhören. Nur stolz war ich nicht mehr darauf: drei Uhr - keine Zeit eigentlich für Berlin, für das Leben in dieser Stadt. Vor ein paar Wochen gehörte ich selbst noch dazu. Und jetzt? Jetzt lag
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher