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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher
Autoren: Rosamunde Pilcher
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Cheltenham nach London zu nehmen, mit ihrer Schwester zu Mittag zu essen, vielleicht kurz zu Harrods hineinzuschauen und dann wieder nach Hause zu fahren. Es war schließlich ein alles andere als verruchtes Vorhaben. Sie war nicht im Begriff, sich wild extravaganten Ausschweifungen hinzugeben oder einen Liebhaber zu treffen, es war sogar im Grunde ein Pflichtbesuch, bei dem über Verantwortung gesprochen und Entscheidungen getroffen werden mußten, doch sobald sie ihrer Familie das Vorhaben angekündigt hatte, schienen sich alle möglichen Umstände drohend gegen sie zu verschwören, und sie mußte Einwände oder, schlimmer noch, Gleichgültigkeit überwinden und hatte schließlich das Gefühl, sie kämpfe um ihr Leben.
    Gestern abend, nach der telefonischen Verabredung mit Olivia, hatte sie angefangen, ihre Kinder zu suchen. Sie hatte sie schließlich in dem kleinen Wohnzimmer gefunden, das sie euphemistisch als Bibliothek bezeichnete, auf dem Sofa vor dem brennenden Kamin, beim Fernsehen. Sie hatten ein eigenes Spielzimmer und ein eigenes Fernsehzimmer, aber das Spielzimmer besaß keinen Kamin und war eine Eishöhle, und der Apparat war ein alter Schwarzweißfernseher, und deshalb war es kein Wunder, daß sie die meiste Zeit hier verbrachten.
    »Kinder, ich muß morgen nach London, um Tante Olivia zu treffen und über Großmutter Pen zu sprechen.«
    »Aber wer bringt Lightning dann zum Hufschmied, er muß unbedingt neu beschlagen werden?«
    Das war Melanie. Während sie redete, kaute sie an ihrem Pferdeschwanz und hielt den Blick finster auf den zappelnden Rocksänger gerichtet, der den Bildschirm füllte. Sie war vierzehn und machte, wie ihre Mutter sich immer wieder sagte, gerade diese schwierige Zeit durch.
    Nancy hatte mit der Frage gerechnet und sich die Antwort zurechtgelegt.
    »Ich werde Croftway bitten, das zu tun. Er müßte es allein schaffen können.«
    Croftway war der Gärtner oder vielmehr der Mann für alles, ein mürrischer Kerl, der mit seiner Frau über dem Pferdestall wohnte. Er haßte die Pferde und machte sie mit seiner lauten Stimme und seiner ungehobelten Art scheu, aber es gehörte zu seiner Arbeit, sich mit um sie zu kümmern, und er tat es widerwillig, indem er die schweißnassen Tiere in die Boxen trieb und das plumpe Gefährt zu verschiedenen Veranstaltungen des Reitclubs kutschierte. Nancy nannte ihn dann immer »unser Stallbursche«. Nun brachte der elfjährige Rupert, der die letzten Worte mitbekommen hatte, seine Einwände vor: »Ich habe Tommy Robson gesagt, daß ich morgen bei ihm Tee trinke. Er hat ein paar Fußballzeitschriften und will sie mir leihen. Wie komme ich nach Haus?« Er hatte nichts dergleichen vorher erwähnt, Nancy hörte das erste Mal davon. Fest entschlossen, nicht aus der Haut zu fahren, und in dem Wissen, daß der Vorschlag, sich einen anderen Tag auszusuchen, nur lautstarken Protest und ein weinerliches »Das ist nicht fair!« auslösen würde, schluckte sie ihre Gereiztheit hinunter und sagte, so freundlich sie konnte, er könne vielleicht mit dem Bus fahren. »Aber dann muß ich vom Dorf aus zu Fuß gehen.«
    »Oh, es sind doch nur ein paar hundert Meter.« Sie lächelte, um das beste aus der Situation zu machen. »Es wird dich dieses eine Mal schon nicht umbringen.« Sie hoffte, er würde das Lächeln erwidern, aber er kniff nur den Mund zusammen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu.
    Sie wartete. Worauf? Vielleicht auf ein bißchen Interesse, wo es doch um etwas ging, das für die ganze Familie sehr wichtig war? Sogar die hoffnungsvolle Frage, welche Geschenke sie mitbringen würde, wäre besser gewesen als nichts. Aber sie hatten ihre Anwesenheit bereits vergessen, konzentrierten sich uneingeschränkt auf das, was sie sahen. Sie fand den Lärm des Apparats plötzlich unerträglich, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. In der Diele wurde sie von einer eisigen Kälte umhüllt, die aus den Steinplatten des Fußbodens aufstieg und die Stufen hinaufkroch, um auf den Treppenabsätzen geballt zu lauern. Es war ein harter Winter gewesen. Nancy sagte sich - oder jedem, den sie zum Zuhören bewegen konnte - von Zeit zu Zeit tapfer, daß die Kälte ihr nichts ausmache. Sie sei ein warmblütiger Mensch, und es störe sie nicht weiter. Außerdem, erläuterte sie, friere man im eigenen Haus nie richtig, weil es immer eine Menge zu tun gebe. Doch heute abend, wo die Kinder so unausstehlich waren, erschauerte sie bei dem Gedanken, noch
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