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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie
Autoren: Anne Rice
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hinab und merkte, daß es bitter kalt war und ihre Hände langsam steif wurden.
    Aber das war nicht wichtig. Und plötzlich schien es herrlich, daß es nichts mehr ausmachte. Daß es ihr einerlei war.
    Sie war überhaupt nicht hier. Sie war daheim in London. Sie stand im Wintergarten, und der war voller Blumen. Ramses stand da in seinen Leinenbandagen. Vor ihren Augen hob er die Hände und riß die Bandagen vom Gesicht. Die blauen Augen sahen sie direkt an und waren sofort voller Liebe.
    »Nein, das stimmt nicht«, flüsterte sie. Aber mit wem redete sie? Niemand konnte hören, was sie sagte. Das ganze Schiff schlief, alle britischen Bürger kehrten nach ihrem kurzen Ausflug nach Hause zurück. Wie schön, daß man die Pyramiden gesehen hatte, die Tempel. Vernichte das Elixier. Jeden Tropfen.
    Sie sah auf das aufgewühlte Meer. Plötzlich zerrte der Wind an ihrem Haar und an ihrem Schal. Sie umklammerte das Ge-länder. Dabei wurde der Schal von ihren Schultern gerissen und zu einem Ball zusammengerollt, der dann in die Dunkelheit verschwand.
    Der Nebel verschluckte ihn. Sie sah nicht, wie er im Wasser landete. Und plötzlich vereinigte sich der Lärm der Motoren mit dem Lärm des Windes und letztendlich auch mit dem Nebel.
    Ihre Welt war zerbrochen. Ihre Welt der verblaßten Farben und gedämpften Geräusche, zerbrochen. Sie hörte seine Stimme, die zu ihr sprach. »Ich liebe dich, Julie Stratford.« Sie hörte sich sagen: »Ich wünschte, ich hätte dich niemals gesehen. Ich wünschte, du hättest Henry sein Vorhaben ausführen lassen.«
    Plötzlich lächelte sie. War ihr schon jemals in ihrem Leben so kalt gewesen? Sie sah nach unten. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd. Kein Wunder. Und die Wahrheit war, sie hätte jetzt tot sein sollen. Tot wie ihr Vater. Henry hatte das Gift in ihre Tasse geschüttet. Sie machte die Augen zu und drehte das Gesicht im Wind hierhin und dorthin.
    »Ich liebe dich, Julie Stratford«, hörte sie ihn wieder sagen, und dieses Mal hörte sie sich mit den uralten und doch so wunderbaren Worten antworten: »Ich werde dich lieben bis ich sterbe.«
    Es hatte keinen Sinn, nach Hause zu fahren. Es hatte keinen Sinn, überhaupt nichts hatte Sinn. Die tägliche Routine des Lebens. Das Abenteuer war zu Ende. Der Alptraum war zu Ende. Und jetzt würde die normale Welt der Alptraum sein, sofern sie nicht bei ihrem Vater sein konnte, oder allein und abgeschieden von der Wirklichkeit, an einem Ort, an dem sie nur an die wunderbaren Augenblicke denken konnte, die gewesen waren.
    Im Zelt mit ihm, beim Liebesakt mit ihm, endlich sein. Im Tempel unter den Sternen.
    Sie würde im hohen Alter keinen Kindern erklären, warum sie nie geheiratet hatte. Sie würde keinem jungen Mann die Geschichte ihrer Reise nach Kairo erzählen. Sie würde nicht diese Frau werden, die ihr ganzes Leben lang ein schreckliches Wissen mit sich trug, ein schreckliches Bedauern.
    Aber dies war zu grausam, alles. Keine Notwendigkeit für solch förmliche Gedanken. Die dunklen Wasser warteten. Sie würde innerhalb von Augenblicken weit, weit vom Schiff sein.
    Die Möglichkeit einer Rettung war ausgeschlossen. Und plötzlich erschien ihr der Gedanke unbeschreiblich schön. Sie muß-
    te nur hochklettern, was sie jetzt tat, und sich in den kalten Wind werfen.
    Der Wind würde sie sogar ein Stück tragen. Er hatte ihr Nachthemd ergriffen und ließ es flattern. Sie streckte die Arme aus und neigte sich nach vorne. Es schien, als würde der Wind lauter werden und als würde sie dem Wasser entgegenfliegen.
    Es war vollbracht.
    Im Bruchteil einer Sekunde wußte sie, daß nichts sie retten konnte. Während sie fiel, wollte sie den Namen ihres Vaters aussprechen. Aber nur Ramses Name kam ihr in den Sinn.
    Ah, wie wunderbar, wie wunderbar das alles.
    Da fingen zwei kräftige Arme sie auf. Sie hing über dem Meer und bemühte sich, durch den Nebel zu sehen.
    »Nein, Julie.« Es war Ramses, der sie anflehte. Ramses, der sie wieder über die Reling hob und in die Arme schloß. Ramses, der an Deck stand und sie in den Armen hielt. »Laß den Tod nicht über das Leben triumphieren, Julie.«
    Das Schluchzen brach aus ihr heraus. Sie zerbarst gleich Eis, als die wannen Tränen über ihre Wangen rollten, als sie ihn umarmte und das Gesicht an seine Brust drückte.
    Sie wiederholte immer wieder seinen Namen. Sie spürte, wie seine Arme sie vor dem bitterkalten Wind schützten.

    Kairo erwachte mit aufgehender Sonne. Die Hitze schien von den
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