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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Autoren: Kai Meyer
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Pharao ausgeschlossen hatte. Als Lalapeja in der Tür erschien, brachen sie in Jubel aus. Ihr blieb gar kein andere Wahl, als ihnen zu gestatten, auch in Zukunft hier zu wohnen - vorausgesetzt, sie machten sich bei den Arbeiten im Viertel nützlich und hielten die Hallen und Flure sauber. Merle dachte, dass Lalapeja die Gesellschaft gut tun würde; sie würde sich nicht mehr so einsam fühlen in dem großen, alten Gemäuer.
    Am Abend aßen sie gemeinsam im großen Saal, und Merle und Junipa wurde bewusst, dass dies für lange Zeit ihre letzte Mahlzeit in dieser Welt sein würde. Das machte sie traurig und aufgeregt zugleich.
    Es war längst dunkel, als Lalapeja sie in ihre Gemächer führte, durch ein Labyrinth wehender Seidenvorhänge zu einer Wand mit einem hohen Spiegel. Das Silberglas funkelte wie reinster Kristall.
    Sein Rahmen war ein hölzerner Reigen aller Fabelwesen des Orients, ein Tanz aus Tausendundeiner Nacht.
    „Noch ein Abschied", sagte Lalapeja, während die Mädchen mit prallen Rucksäcken vor ihr standen, gefüllt mit Lebensmitteln und Wasserflaschen. „Der letzte, hoffentlich."
    Merle wol te etwas sagen, aber ihre Mutter legte ihr sanft einen Finger auf die Lippen. „Nicht", flüsterte sie kopfschüttelnd. „Du weißt, wo du mich finden kannst, wann immer du willst. Ich gehe nicht fort von hier. Ich bin die Wächterin der Lagune. Wenn auch die Menschen mich nicht brauchen mögen, so tun es vielleicht die Meerjungfrauen."
    Merle sah sie lange an. „Du warst es, die ihren Friedhof gebaut hat, nicht wahr?"
    Die Sphinx nickte. „Er liegt unter dem Palazzo. Jemand muss darauf Acht geben. Und vielleicht kann ich den Jungs dort draußen ja beibringen, dass es Gründe gibt, die Meerjungfrauen zu respektieren oder sogar ihr Freund zu sein. Ich denke, das wäre ein guter Anfang." Sie lächelte. „Außerdem ... es wird bald Sommer werden. Venedig ist wunderschön, wenn die Sonne scheint."
    „Sommer!", rief Merle aus. „Natürlich! Was ist aus ihr und Winter geworden?"
    „Geworden?" Lalapeja lachte. „Die beiden werden sich niemals ändern. Sie ziehen weiter durch die Welt, wie sie es seit Anbeginn der Zeit getan haben, unbehelligt von den Geschicken der Menschen.
    Und hin und wieder werden sie einander begegnen und dabei so tun, als wären sie selbst Menschen, die ineinander verliebt sind."

    „Sind sie das denn nicht?", fragte Junipa. „Verliebt?"
    „Viel eicht sind sie es. Vielleicht aber auch aus Notwendigkeit oder weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Nicht einmal sie sind völlig frei."
    Junipa dachte noch über die Worte nach, aber Lalapeja wandte sich bereits an Merle und stellte eine Frage, die ihr schon viel zu lange auf den Lippen brannte. Merle hatte seit Tagen darauf gewartet.
    „Du wil st ihn finden, nicht wahr? Steven, meine ich. Deinen Vater."
    „Ja, vielleicht", sagte Merle. „Falls er überhaupt noch am Leben ist."
    „Oh, das ist er gewiss", sagte die Sphinx überzeugt, „irgendwo hinter den Spiegeln. Die Zähigkeit und das Durchhaltevermögen hast du nicht nur von mir geerbt, Merle, sondern auch von deinem Vater.
    Ganz besonders von ihm."
    „Wir können ihn suchen, wo wir wollen", sagte Junipa, und ihre Spiegelaugen blitzten vor Entschlossenheit. „In al en Welten."
    Lalapeja strich sanft mit dem Handrücken über Junipas Wange. „Ja, das könnt ihr. Du gibst auf Merle Acht, nicht wahr? Sie grübelt zu viel, wenn sie allein ist. Das hat sie von ihrer Mutter."
    „Ich werde nicht allein sein." Merle lächelte Junipa zu. „Keine von uns." Und dann umarmte und küsste sie Lalapeja und nahm endgültig Abschied von ihr. Junipa berührte die Oberfläche des Spiegels und sprach flüsternd das Gläserne Wort.
    Merle folgte ihr durch die Wand aus Silber, hinaus in die Labyrinthe der Spiegelwelt, dorthin, wo es so vieles zu sehen, zu erkunden, zu finden gab. Ihren Vater. Das andere Venedig - das aus den Spiegelungen auf den Kanälen. Und dort wiederum, wer weiß, eine andere Merle, eine andere Junipa.
    Einen anderen Serafin.
    Lalapeja aber blieb noch lange stehen, nachdem die beiden fort waren und sich die Spiegelwogen geglättet hatten. Dann erst wandte sie sich um, teilte die Seidenschleier mit ihren bandagierten Händen und streifte durchs Haus, das endlich wieder voller Leben war.
    Von weiter unten aus der Küche roch es nach Zimt und Honig, und durch die Mauern konnte sie das Rumoren der Stadt hören, das Erwachen der Zukunft. Dazwischen, so weit entfernt, dass kein
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