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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Autoren: Kai Meyer
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Ähnlichkeit hatte mit der dämonischen Göttin, die die Erbauer des Standbilds aus ihr gemacht hatten. Sie fragte sich, wem es überhaupt gestattet gewesen war, diesen Dom zu betreten und die wahre Sekhmet zu betrachten. Gewiss nur einem engen Kreis von Eingeweihten, einigen Priestern der Sphinxe, den mächtigsten ihrer Magier.
    Was muss ich tun?, fragte sie in Gedanken.
    „Berühre sie." Die Königin zögerte einen Augenblick. „Alles andere erledige ich."
    Merle schloss die Augen und legte ihre Handfläche zwischen die steinernen Ohren der Löwengöttin.
    Im selben Moment aber ergriff Serafin ihren Unterarm, und einen Herzschlag lang glaubte sie, er wollte sie aufhalten, notfalls mit Gewalt - doch das tat er nicht.
    Stattdessen zog er sie herum, nahm sie in seine Arme und küsste sie.
    Merle wehrte sich nicht. Sie hatte noch nie einen Jungen geküsst, nicht so, und als sie die Lippen öffnete und ihre Zungenspitzen sich berührten, da war es, als wäre sie ganz woanders mit ihm, an einem Ort, der vielleicht ähnlich gefährlich war wie dieser hier, nur weniger endgültig, weniger kalt. An einem Ort, an dem es selbst für Verzweifelte Hoffnung gab.
    Sie öffnete die Augen und bemerkte, dass er sie ansah. Sie erwiderte den Blick, schaute tief in ihn hinein.
    Und erkannte die Wahrheit.
    „Nein!" Sie stieß ihn zurück, verwirrt, schockiert. Unfähig zu glauben, was gerade geschehen war.
    Königin?, brüllte sie in Gedanken. Sekhmet?
    Sie bekam keine Antwort.
    Serafin lächelte traurig, als er den Kopf senkte und ihre Stelle neben dem Podest einnahm.
    „Nein!", schrie sie noch einmal. „Das kann nicht - ... Das habt ihr nicht getan!"
    „Er ist ein tapferer Junge", sagte die Fließende Königin mit Serafins Stimme. Mit seinem Mund,
    seinen Lippen. „Ich lasse nicht zu, dass du stirbst, Merle. Sein Angebot war sehr mutig. Und zuletzt lag die Entscheidung eben doch bei mir selbst."
    Serafin legte eine Hand zwischen die Ohren des versteinerten Körpers.
    Merle sprang auf ihn zu, wol te ihn fortreißen, doch Serafin schüttelte nur den Kopf. „Nicht", flüsterte er.
    „Aber ... aber du ..." Ihre Worte verebbten. Er hatte sie geküsst und der Fließenden Königin Gelegenheit gegeben, in seinen Körper zu fahren. Er hatte es wirklich getan!
    Sie spürte, wie ihre Knie einknickten. Hart sank sie auf die höchste Altarstufe, nur einen Fingerbreit oberhalb des Wassers.
    „Der Wechsel hat dich geschwächt", sagten die Königin und Serafin gemeinsam. „Du wirst eine Weile schlafen. Du musst jetzt ausruhen."
    Sie wollte sich wieder hochrappeln, sich abermals auf Serafin stürzen, ihn anflehen, es nicht zu tun.
    Doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, so als wäre mit der Königin auch die Kraft daraus entwichen, die Merle tagelang auf den Beinen gehalten hatte, beinahe ohne Schlaf und Nahrung. Jetzt kam die Erschöpfung über sie wie eine tückische Krankheit. Sie ließ Merle nicht die Spur einer Chance.
    Die Wirklichkeit entglitt ihr, verschob sich, verwischte. Ihre Stimme versagte, ihre Gelenke konnten das Gewicht nicht mehr halten.
    Sie sah Serafin, der vor dem Altar die Augen schloss.
    Sah Vermithrax wie einen Leuchtkäfer um den Schädel des tobenden Sohns der Mutter kreisen.
    Sah ihre Freunde oben auf der Brüstung, klein wie Stecknadelköpfe, eine Kette dunkler Schattenperlen.
    Serafin verschwamm vor ihren Augen. Die ganze Umgebung löste sich auf. Und dann lag sein Gesicht plötzlich vor ihrem, sehr blass, die Augen geschlossen.
    Ihr Geist schrie auf, in endloser Pein und Trauer, aber kein Laut drang über ihre Lippen.
    Ein grauer Schemen huschte über sie hinweg, der federleichte Satz einer Raubkatze aus grauem Stein. Wasser klatschte. Wellen schlugen gegen ihre Wange.
    Sekhmet, dachte sie.
    Serafin.
    Ein Weltuntergang in ihr, vielleicht auch um sie herum.
    Der Sohn der Mutter. Sekhmet. Und immer wieder Serafin.
    Sie musste schlafen. Einfach nur schlafen. Das hier war nicht mehr ihr Kampf.
    Hände packten sie, wuchsen aus dem Silberspiegel der Wasseroberfläche empor. Schmale Mädchenhände, gefolgt von anderen. Gestalten überall im Wasser.
    Serafin lebte nicht mehr. Sie wusste es. Wollte es nicht wahrhaben. Wusste es trotzdem.
    Die Schreie des Sohns der Mutter überall um sie herum.

    „Merle", flüsterte Junipa und zog sie mit sich in die Spiegelwelt.
    Dunkelheit. Dann Silber.
    Keine Schreie mehr.
    „Merle." Immer noch Junipas Wispern.
    Merle wollte sprechen, etwas fragen, aber ihre Lippen bebten nur,
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