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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Autoren: Kai Meyer
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stammten.
    Sie gehörten zur Sprache der Sphinxe, und ihre Bedeutung schien Simphater zutiefst zu beeindrucken.
    Noch einmal beäugte er Merle argwöhnisch, dann verwandelte sich sein Zögern in Ehrfurcht. Er senkte das Haupt und verneigte sich demütig.
    „Ich werde tun, was ihr verlangt", sagte er.
    Junipas Blick fragte: Woher kannst du das? Aber Merle musste sie weiter im Ungewissen lassen.
    Jetzt war keine Zeit für eine Antwort.
    Vermithrax dagegen wusste, wer aus Merle sprach. Besser als jeder Mensch spürte er die Anwesenheit der Königin, und Merle hatte sich mehr als einmal gefragt, welche Verbindung zwischen dem geisterhaften Wesen in ihrem Inneren und dem Löwen aus Obsidian bestand.
    „Du steigst zuerst ein", sagte er zu Simphater und deutete auf die Luke.
    Der Sphinx nickte. Seine Pfoten hinterließen rote Abdrücke im Schnee.
    Ein schriller Laut gellte über die Eisebene, so hell, dass Merle und Junipa sich die Ohren zuhielten.
    Das Kreischen hallte vibrierend über das Land, bis hin zu den vereinzelten Schneepyramiden in der Ferne. Die Eiskruste bekam Risse, und an den Rändern der Stufen über und unter der Barke lösten sich Zapfen und bohrten sich zwei Meter tiefer in den Schnee.
    Merle kannte diesen Laut.

    Der Schrei eines Falken.
    Simphater erstarrte.
    Über dem Horizont erhob sich der Umriss eines mächtigen Raubvogels, vielfach höher als alle Pyramiden, golden gefiedert und mit Schwingen so groß, als wollte er damit die Welt umfassen. Als er sie ausbreitete, lösten sie einen tosenden Schneesturm aus.
    Merle sah, wie die Eismassen der Ebene aufgepeitscht wurden und als weiße Wolkenwand auf sie zu tobten; erst kurz vor der Pyramide verloren sie an Kraft und sanken in sich zusammen. Der riesenhafte Falke riss seinen Schnabel auf und stieß abermals das hohe Kreischen aus, noch lauter diesmal, und jetzt geriet überall um sie herum der Schnee in Bewegung, zitterte und vibrierte wie bei einem Erdbeben. Junipa klammerte sich an Merle, und Merle griff instinktiv in Vermithrax' lange Mähne.
    Simphater verfiel in heillose Panik, wich mit weit aufgerissenen Augen zurück, verlor auf dem glatten Rumpf der Sonnenbarke das Gleichgewicht und schlitterte über die Kante in die Tiefe, diesmal mit größerer Wucht als zuvor. Die nächste Pyramidenstufe hielt ihn nicht auf, er polterte weiter abwärts, die langen Beine knickten ein, der Kopf krachte mehrfach auf Eis und Gestein, und der Sphinx kam erst am Fuß der Pyramide zum Liegen, viele Stufen und Meter unter ihnen, so unnatürlich verdreht, dass kein Zweifel daran bestand, dass er tot war.
    Ein letztes Mal schrie der Falke, dann schloss er die Schwingen vor seinem Körper wie ein Magier den Umhang nach einem gelungenen Kunststück, verbarg sich dahinter und löste sich auf.
    Augenblicke später war der Horizont wieder leer und alles wie zuvor - mit Ausnahme Simphaters, der leblos tief unter ihnen im Schnee lag.
    „In die Barke, schnell!", rief Vermithrax. „Wir müssen -"
    „Weg?", fragte jemand über ihnen.
    Eine Stufe höher stand ein Mann, unbekleidet trotz der Kälte. Einen Augenblick lang glaubte Merle, feines Gefieder auf seinem Körper zu erkennen, doch dann verblasste es. Vielleicht eine Täuschung.
    Seine Haut war einmal golden bemalt gewesen, aber jetzt zeugten nur noch einige verschmierte Farbstreifen davon. In seinen kahlen Schädel war ein feinmaschiges Netz aus Gold eingelassen. Wie das Muster eines Schachbretts bedeckte es seinen ganzen Hinterkopf und reichte vorn bis fast zu den Brauen.
    Sie alle erkannten ihn wieder: Seth, der Höchste unter den Horuspriestern Ägyptens, persönlicher Vertrauter des Pharaos und zweiter Mann in der Hierarchie des Imperiums.
    In Gestalt eines Falken war er aus der Unterwelt geflohen, nachdem sein Mordanschlag auf Lord Licht, den Herrscher der Hölle, gescheitert war. Vermithrax war dem Vogel gefolgt, und so hatten sie den Pyramidenausgang gefunden, der sie an die Oberfläche zurückgebracht hatte.
    „Ohne mich werdet ihr nirgendwohin gehen", sagte Seth und klang doch nicht halb so Furcht einflößend, wie er es sich vielleicht wünschte.
    Der Anblick der vereisten Wüste verunsicherte ihn genauso wie alle anderen. Zumindest aber schien er nicht zu frieren, und Merle sah, dass der Schnee unter seinen Füßen geschmolzen war. Seth galt nicht umsonst als mächtigster Magier unter den Dienern des Pharaos.
    „In die Barke!", flüsterte Vermithrax den Mädchen zu. „Beeilt euch!"
    Merle und Junipa
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