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Die Markgräfin

Die Markgräfin

Titel: Die Markgräfin
Autoren: Sabine Weigand
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eines zerborstenen Mauersteins. Ohne recht zu wissen warum, bückte er sich mit einem angestrengten Quietscher, um den Stein aufzuheben. Er suchte nach der fehlenden Stelle in der Mauer und wollte den Stein in die Lücke hineindrücken, als ein weiteres kleines Stück aus der Mauer herausfiel. Haubold bemerkte, dass sich dahinter ein Hohlraum befand. Vergeblich versuchte er, mit der Taschenlampe hineinzuleuchten – das Loch war zu klein. Er schob mühsam eine Hand in den Hohlraum und fingerte vorsichtig darin herum. Was er fühlte, waren kleine Steinchen, etwas Glattes, Rundliches und diverse kleinere und größere Teilchen.
    Das Erste, was Haubold dann herauszog, war ein
flaches, eckiges Stückchen. Er blies es vom Staub frei und versuchte es notdürftig zu säubern. Beim Ankratzen mit dem Daumennagel erwies sich das Material als hart und irgendwie glatt, jedenfalls war es kein Holz, auch kein Stein, eher Metall. Vergessen waren das Mittagessen und der Wasserschaden – Haubolds Forschergeist war geweckt. Nachdem kein Pinsel für eine sachgemäße Reinigung des Teilchens zur Hand war, zog der Kastellan ein altväterliches Herrentaschentuch mit deutlichen Gebrauchsspuren aus der Gesäßtasche, spuckte auf das Metallteil (im Gegensatz zu führenden Wissenschaftlern sah er Speichel durchaus nicht als konservatorische Todsünde an) und putzte das Ding mit aller Sorgfalt.
    Was er sah, ließ ihn innerlich frohlocken: ein winziges Metallscharnier! Und nicht etwa ein einfaches Scharnier, nein, er hielt da ein aufwendig gearbeitetes Teil in der Hand, das florale Muster in feinster Ziselierung aufwies. Haubold schob seine schon reichlich verkratzte Hand noch einmal in das Loch und ergriff ein paar undefinierbare Kleinteile. Er blies, reinigte und ordnete die Teilchen, überlegte und folgerte schließlich enttäuscht, dass es sich lediglich um die Knöchelchen einer Tierpfote handelte. Aber wie, so fragte sich Haubold, war das Tier in das Mauerloch gelangt? Ging ein größerer Riss durch die Außenwand, sodass ein Marder oder ein anderes Kleintier von draußen hereinkommen und hier wie in einer
Höhle Unterschlupf finden konnte? Der Kastellan sah schon in düsteren Vorahnungen Restaurierungsmaßnahmen an der Außenmauer auf sich zukommen. Andererseits, was hatte ein antikes Metallscharnier in einer Tierhöhle zu suchen?
    Er griff noch einmal zu Hammer und Meißel und erweiterte das Mauerloch. Vorsichtig setzte er die Werkzeuge ein, um nichts zu zerstören, und löste noch drei, vier Brocken aus der Wand. Nun konnte er in das Loch hineinleuchten. Im Licht der Taschenlampe sah er, dass es sich um einen engen Hohlraum handelte, mit irgendwelchem Abraum darin, alles staubig und grau. Außerdem lag da noch etwas Größeres, Kugeliges, das er vorhin schon gefühlt hatte. Er zog die Lampe zurück und griff wieder mit der Hand in das Loch. Seine Finger schlossen sich um das rundliche Ding. Es passte zusammen mit seiner Hand gerade noch durch die erweiterte Öffnung. Nachdenklich betrachtete der Kastellan das geborgene Teil, drehte und wendete es. Das musste eine kleine knöcherne Hirnschale sein. Haubold langte noch einmal in die Höhlung und tastete nach der Kinnlade des Tieres. Er versuchte, nach spitzen Zähnchen zu fühlen, fand aber nichts. Schließlich zog er ein Knochenstückchen mit heraus, bei dem er die Krümmung eines Kieferknochens zu spüren glaubte. Er öffnete die Hand, und tatsächlich, da war der kleine Unterkiefer. Der Kastellan schüttelte den Kopf. Der Kiefer lief nicht so
spitz zu, wie er es bei einem Tier erwartet hätte. Und er war völlig zahnlos. Was war das bloß für ein komisches Vieh? Haubold fingerte unschlüssig an den Knochenteilen herum und besah sie sich noch einmal von allen Seiten. Er hielt die beiden Stücke aneinander. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Dies war kein Tierschädel! Der Schreck fuhr ihm so in die Glieder, dass er beinahe alles fallen gelassen hätte. Es lief ihm kalt über den Rücken. Das hier war, nach allem, was er wusste, die verkleinerte Ausgabe eines menschlichen Schädels – Allmächtiger, er hatte gerade den Schädel und die winzige Hand eines Kindes entdeckt.
    Der Kastellan wurde blass. Er stürmte los, lief keuchend an den verdutzten Klempnern vorbei die Treppe hoch und rannte, so schnell es seine zweieinhalb Zentner erlaubten, quer über den Schlosshof. Schwer atmend erreichte er den Kassenbereich des Zinnfigurenmuseums. Als er nach dem Telefonhörer
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