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Die Maechtigen

Titel: Die Maechtigen
Autoren: Brad Meltzer
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mein Herz zu flattern. Aber was mich am meisten schockiert: Es fühlt sich gar nicht schlecht an. Allerdings bin ich mir auch nicht sicher, ob es sich gut anfühlt. Vielleicht ist es gut. Nach Iris fällt es mir schwer, das zu entscheiden. Jedenfalls fühlt es sich an, als hätte jemand ein dickes Spinnennetz von meinem Gedächtnis gerissen, ein Spinnennetz, von dessen Existenz ich überhaupt nichts wusste.
    Natürlich meide ich die Erinnerungen an sie. Nur sie kann so etwas in mir auslösen.
    Clementine Kay war das erste Mädchen, das ich jemals geküsst habe, damals in der achten Klasse. Es passierte, nachdem die hellroten Vorhänge sich öffneten und sie den Bandwettbewerb – sie trat allein auf – mit Joan Jetts I Love Rock ’n’ Roll gewann. Ich war der zu kurz geratene Junge, der zusammen mit dem nach Kaffee riechenden Techniklehrer die Scheinwerfer bediente. Ich war also der Erste, den Clementine hinter der Bühne sah, und genau in dem Moment gab sie mir den ersten richtigen, feuchten Kuss.
    Der erste Kuss. Wie wichtig er ist.
    Das bedeutet mir Clementine.
    Mit schnellen Schritten gehe ich in die Eingangshalle. Ich bemühe mich, cool zu bleiben, aber ein Gefühl von Fadheit breitet sich in meinem Brustkorb aus. Nach der Geburt meiner beiden älteren Schwestern und wegen des damit verbundenen Chaos nannte meine Mutter mich Beecher. In der Hoffnung, dass mein Leben so ruhig und heiter wie ein Tag am Strand verlaufen würde. Dieser Moment jedenfalls ist alles andere als das.
    Ein Fahrstuhl wartet mit weit geöffneten Türen auf mich. Dazu möchte ich etwas anmerken. Ein Psychologe aus Harvard behauptet, dass wir uns immer an die langsamere Schlange im Supermarkt anstellen, weil die Frustration emotionaler belastet ist. Die schlechten Momente sind also einprägsamer. Deswegen erinnern wir uns nicht an all die Male, die wir die kürzere Schlange genommen haben und sofort durchgerauscht sind. Ich dagegen erinnere mich gerne daran. Ich brauche diese Momente. Sollte ich mich irgendwann nicht mehr daran erinnern, muss ich Washington sofort verlassen und nach Wisconsin zurückkehren. »Erinnere dich an diesen Fahrstuhl, wenn du das nächste Mal wieder in der langsamen Schlange stehst«, flüstere ich mir zu, um mich zu beruhigen. Das ist ein guter Trick.
    Leider hilft er nicht.
    »Schneller, schneller …«, murmele ich und drücke mit aller Kraft auf den Tür-zu -Knopf. Das habe ich in meiner ersten Woche im Archiv gelernt: Wenn du ein hohes Tier herumführst, halte den Tür-zu -Knopf gedrückt. Dann hält der Fahrstuhl an keinem anderen Stockwerk mehr.
    Wir sind angewiesen, diesen Trick nur bei hohen Tieren zu benutzen.
    Aber in meinem ganz persönlichen Universum gibt es nichts Größeres als dieses Mädchen … diese Frau. Sie ist jetzt eine Frau, und ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ihre Hippiemutter, eine Barsängerin, mit ihr die Stadt verließ und sie in der zehnten Klasse für immer aus meinem Leben verschwand. Die meisten Menschen in unserer tiefreligiösen Stadt in Wisconsin waren ziemlich begeistert, als sie verschwanden.
    Ich war sechzehn. Und am Boden zerstört.
    Heute bin ich dreißig. Und das Wiedersehen mit Clementine ist, weil sie mich auf Facebook gefunden hat, nur noch ein paar Sekunden entfernt.
    Als der Fahrstuhl hält, werfe ich einen Blick auf meine Digitaluhr. Zwei Minuten, zweiundvierzig Sekunden. Ich beherzige Orlandos Rat und entscheide mich für ein Kompliment. Ich werde ihr sagen, dass sie gut aussieht. Nein. Nimm ihr Aussehen nicht so wichtig. Du bist doch kein hohles Rindvieh. Das kannst du besser, sage ich mir und atme tief durch. Du hast dich wirklich toll gemacht, das sage ich. Hört sich netter an. Weicher. Ein echtes Kompliment. Du hast dich wirklich toll gemacht .
    Als sich jedoch die Fahrstuhltüren öffnen wie einst der alte, hellrote Vorhang und ich ängstlich in die Lobby fege, während ich mich mit jeder Faser meines Wesens bemühe, den Eindruck zu vermeiden, ich würde rennen, fällt mein Blick auf die morgendliche Reihe von Gästen und Forschern, die dicht gedrängt in ihren Wintermänteln darauf warten, den Metalldetektor der Security zu passieren.
    Seit zwei Monaten chatten wir per Internet und mailen uns, aber gesehen habe ich Clementine seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr. Woher soll ich überhaupt wissen, wie sie …?
    »Netter Schlips!«, ruft Orlando vom Empfangstisch. Er deutet in die Ecke rechts hinten, am Weihnachtsbaum, der mit geschreddertem Papier
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