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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Charlotte Thomas
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angemessen war, denn das Kind begann sofort laut zu schreien.
    »Nun denn, wenn wir keinen Ärger haben, so bereiten wir uns eben welchen«, sagte Vittore griesgrämig. Er raffte sich auf, ergriff das Ruder und stakte das Boot zurück zu der hölzernen Plattform, bevor es weiter abtreiben konnte. Er warf das Tau um eine Stange und nahm die Laterne aus ihrer Halterung am Mast, um sie auf den Steg zu stellen.
    Pasquale war aufgewacht und reckte sich verschlafen. Als er seine Verletzung spürte, stöhnte er leise. Dann wandte er sich neugierig zu der Quelle des Geräuschs um.
    Piero hob indessen das kreischende, streng riechende Bündel dicht vor sein Gesicht, um es zu betrachten. Ob es ein Wunder war oder nur ein Zufall – das Kind verstummte auf der Stelle. Es hatte die Augen weit geöffnet, und diesmal hatte Piero nicht den geringsten Zweifel, dass es ihn ansah. Vorsichtig zog er das beschmutzte Wams ein wenig auseinander, um das Neugeborene näher zu betrachten. Sofort erschienen zwei fuchtelnde Fäustchen neben dem kleinen Gesicht. Das Köpfchen war von hellem Flaum überzogen, und das, was von der Haut des Kindes zu sehen war, schimmerte im Licht der Laterne wie Milch und Seide. Die Ärmchen waren zart wie winzige Flügel, die Finger filigraner als der kostbarste Elfenbeinschmuck. Als spüre das kleine Geschöpf, dass es begutachtet wurde, verzog es im nächsten Augenblick den Mund zu einem flüchtigen, aber betörenden Lächeln.
    Pasquale hatte sich hinter Piero gehockt. »Es sieht aus wie ein Engel«, flüsterte der Junge.
    Piero wollte widersprechen, schwieg dann aber. Nein, kein Engel, dachte er. Engel waren namenlose Wesen, kalt und fern. Dieses Kind hier lag in seinen Armen. Es war warm und lebendig. Und es würde einen Namen tragen. Aber welchen? Er verlagerte sein Gewicht, und bei dieser Bewegung spürte er seine Gürteltasche, in die er das Amulett gesteckt hatte, das ihm die Mutter des Kindes gegeben hatte.
    Wie um seine irdische Existenz zu unterstreichen, riss das Neugeborene den Mund zu einem ausgedehnten Gähnen auf. Die drollige Mimik entlockte Piero ein Grinsen. Dann wurde er wieder ernst. Er musste an die Mutter des Neugeborenen denken, die jetzt, selbst fast noch ein Kind, erkaltend und in einer Pfütze ihres eigenen Blutes in einem von Unrat übersäten Hinterhof lag. Wenn er auch sonst nichts von ihr wusste, so doch immerhin ihren Namen.
    »Du wirst Sanchia heißen«, teilte er dem kleinen Mädchen mit. »Sanchia Foscari, die Tochter von Piero Foscari, dem Glasbläser.«
    »Erzähl mir die Geschichte noch einmal«, verlangte Sanchia, während sie auf und ab hüpfte und rätselte, warum der Glücksbringer um ihren Hals sich langsamer bewegte als sie selbst. Der Anhänger folgte ihren Bewegungen und hüpfte ebenfalls, doch er schien dafür immer einen Herzschlag länger zu brauchen.
    »Ich habe sie dir oft genug erzählt«, wehrte Vittore ab. »Ich bin sicher, dass wir erst letzte Woche darüber gesprochen haben. Hör auf zu hüpfen, das macht mich nervös. Und wenn ich nervös bin, wird mir diese Glasschmelze verderben.«
    »Nur noch einmal«, bettelte Sanchia. Sie hielt den Anhänger mit der Faust umfasst, und siehe da, er machte keine Anstalten, ihrem Griff zu entfliehen, sondern hüpfte nun, von ihrer Hand festgehalten, genauso schnell wie ihr ganzer Körper. Dennoch war sie sicher, dass nicht die Kraft ihrer Hand das Auf- und Abschwingen des Anhängers kontrollierte, sondern dass es eine Macht gab, die stärker war als der Griff ihrer Finger. Etwas Übergeordnetes, das sowohl die Höhe ihrer Sprünge als auch die Schnelligkeit und Abfolge der Landungen bestimmte. Vage überlegte sie, ob diese Macht wohl Gott wäre, doch Gott hatte sicher Wichtigeres zu tun, als ihren Glücksbringer zu beobachten und ihn bei ihren Sprüngen langsamer niederfallen zu lassen als ihren Körper.
    »Also gut. Wir – das heißt, dein Vater, Pasquale und ich – waren am Giovedì grasso im Jahre des Herrn 1475 in Venedig. Pasquale schaute den herabfallenden Schweinen zu, während dein Vater und ich zu einem Händler gingen und Quecksilber kauften.«
    »Weil das Quecksilber an diesem Tag in der Werkstatt ausgegangen war?«
    Vittore stöhnte. »Aber ja doch. Sagte ich das nicht schon?«
    »Heute nicht.«
    »Aber letzte Woche! Warum also muss ich es dir immer wieder sagen?«
    Sie wusste selbst nicht, warum sie es stets aufs Neue hören wollte. Vielleicht, weil sie hoffte, er möge sich eines Tages an mehr
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