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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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Krebs gesehen. Da hätte ich doch daran denken müssen, wo der Zug entgleist war. Vielleicht hatte ich doch einen Schlag gegen den Kopf bekommen, eine Gehirnerschütterung, oder es war der Schock. Meine Sinne spielten mir einen Streich.
      Er sagte, „Wir hatten noch Glück. Wäre der Unfall bei Flut passiert, wären wir sofort ertrunken.“
      „Ich bin schon ein Glückspilz“, sagte ich leise und drehte den Kopf in alle Richtungen, als könnte ich in der Schwärze ein Zeichen der kommenden Flut entdecken, „Wie lange haben wir noch Zeit?“
      „Das weiß ich nicht. Kommt darauf an, wo und wie wir liegen. Aber was mich angeht, so liege ich unter dem Meeresspiegel. Aber ich sterbe wahrscheinlich noch vorher.“
      „Haben Sie eine Uhr? Wie viel Uhr ist es?“, fragte ich ihn.
      „Ich habe eine Uhr. Aber ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie spät es ist.“
      „Genau wie ich, ausgerechnet an dem Arm, den ich nicht bewegen kann. Sie sind dann auch so ungünstig eingeklemmt?!“
      „Das können Sie so sagen.“
      „Sie sind von hier?“, fragte ich ihn.
      „Meinen Sie Sylt?“
      „Nein, hier oben ... die Gegend ... Schleswig-Holstein.“
      „Ja, denke ich.“
      „Denken Sie?“
      „Ich wohne in Bredstedt, geboren bin ich in Pommern.“
      „Meck-Pomm?!“
      „Ich weiß jetzt nicht, was Sie meinen.“
      „Mecklenburg-Vorpommern?“, setzte ich nach.
      „Nein, Pommern, heute Polen.“
      Der Scheinwerfer der Lokomotive blitzte über mir auf. Die gleißende Helligkeit blendete mich unnatürlich stark. Wahrscheinlich kam mir das Licht nach der Dunkelheit greller vor.
      „Haben Sie das gesehen?“, rief er mit einer Spur Euphorie in seiner Stimme.
      „Ja. Das ist der Scheinwerfer, der Scheinwerfer der Lokomotive.“
      Wieder das Aufleuchten.
      „Ach so, bei mir kommt ein schwacher Lichtstrahl an.“
      „Hier werde ich geblendet. Was sehen Sie?“
      „Nichts Gutes.“
      Immer rascher flackerte der Scheinwerfer, peitschte das Licht scharfe Schatten zwischen die Stäbe und Streben der Trümmerlandschaft. Und als wären die Kontakte des Lichtstakkatos gleichzeitig an meinem Puls angeschlossen, schlug mein Herz schneller und schneller. Ein nicht zu erklärender Stress, auch genährt durch die begleitende Stille.
      Ich schrie auf, ebenso der alte Mann.
      Zwischen den Trümmerteilen das gespenstisch aufleuchtende Augenpaar des wieder sauberen, weißen Krebses, der im nächsten Moment in einer Schneise aus Schläuchen verschwand.
      Ich schaffte es, mein Schreien zu unterdrücken, lag aber atemlos da mit offenem Mund, und bevor der Scheinwerfer uns wieder in die ewige Nacht entließ, verstummten auch die Schreie des alten Mannes.
      Orange Leuchtkreise pulsierten vor meinen aufgerissenen Augen in der Schwärze.
      Diese Stille. Ich atmete schwer und rief mit gezwungener Lässigkeit, „Das war ja eine Show, was?!“
      Vergebens wartete ich auf eine Antwort. Also wiederholte ich mich lauter und deutlicher, „Ich habe gesagt, das war eine Show, was!?“
      Nichts.
      Hoffentlich war er nur ohnmächtig geworden.
      Ich wusste noch nicht einmal seinen Namen. Wir hatten uns gar nicht vorgestellt.
     
     
    Kleine Gegenstände suchten sich geräuschvoll ihren Weg durch das Chaos, blieben irgendwo in Winkeln liegen, oder fielen durch bis auf den Boden. Immer öfter schlugen sie im Wasser auf, das hörte ich. Selten wurde ich selber getroffen, von kleinen Teilen und seit Kurzem regelmäßig von Tropfen im Haar oder auf der Stirn, je nach dem, wie ich den Kopf drehte.
      Wie lange hatte sich der alte Mann schon nicht mehr gemeldet? Ich hatte das Gefühl, man konnte Zeit in absoluter Dunkelheit schlechter schätzen.
      Zog denn niemand die verkeilten Wagons auseinander? Das musste man doch hören. Metall auf Metall.
      Ich stellte mir vor, wie die Feuerwehr, die Polizei und die Rettungssanitäter den Unfallort abschritten, funkten. Es wurde wild gestikuliert, jemand brüllte Befehle. Die ersten Fernsehteams erreichten die Absperrungen. Aber vielleicht wurden sie auch schon am Anfang des Damms von einer Sperre aufgehalten. Der Damm war nicht sehr breit. Dafür Hubschrauber in der Luft, Polizei und Journalisten. Das Leben tobte da oben.
      Wieder ein Tropfen auf meinen Kopf. Wenn ich gerade lag, traf er mich jedes Mal mitten auf die Stirn. Ich konnte nicht genau sagen, wann das angefangen hatte. Irgendwann tropfte es einfach auf meinen Kopf, seit
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