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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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der wenigen Menschen, die ihr Gewicht halten können.“
      Wir schauten uns an, und er setzte hinzu mit einer ruhigen, nicht aufgesetzt lauten Stimme, „Das Wichtigste im Leben ist, niemals den Humor zu verlieren.“
     
     
    Irgendwer musste mich doch hören! Der Wagon war voller Leute gewesen.
      „Hallo ... Hilfe!“, sagte ich laut.
      Das durfte alles nicht wahr sein.
      „Oh nein, nein! Hilfe ...“, während ich rief, zerrte ich an meinem eingeklemmten Körper, versuchte mich zu drehen, ruckte, schob sogar, um mich irgendwie zu befreien, aber es half nichts. Weder meine Beine noch mein rechter Arm waren in einer besseren Lage als zuvor, vielmehr war das Gegenteil der Fall. Meine hektischen Bewegungen hatten Blutstaus verursacht, die mich meinen Puls überdeutlich spüren ließen.
      Mit meiner freien Hand massierte ich die Schulter des anderen Armes. Das fühlte sich gut an.
      Ein leises Klopfen zwischen all den Tropfgeräuschen. Zuerst dachte ich, es wäre eine Wunschvorstellung, aber die Klopfzeichen wurden wiederholt.
      Ich rief, „Hier! Ja. Hilfe.“
      Gleichzeitig schaute ich mich nach einem geeigneten Stück Metall um, damit ich selber Zeichen geben konnte, doch sämtliche Stahlteile lagen außerhalb meiner Reichweite. Ich dachte an den Bolzen und bereute, ihn aus Wut und Enttäuschung einfach weggeworfen zu haben, bis zu dem plötzlichen markerschütternden Donnergrollen von Hunderten Tonnen sich verschiebenden Stahls über mir. Dazu begann das Scheinwerferlicht zu flackern. Der Boden bebte, mein Magen krampfte sich zusammen, der Trümmerberg über mir gab einen kreischenden Laut von sich, der mir den Atem raubte. Ich schützte mein Gesicht mit der flachen Hand. Ein unbedeutender Reflex, und alles um mich herum geriet in Bewegung.
      Der Berg aus Stahl kam ins Rutschen.
      Oder verursachte das Geflacker des Lichts und der Schatten die Illusion sich bewegender Trümmerteile?
      Mittendrin erschien der Krebs, gleich neben mir, keine Armlänge entfernt, sein gesamter Panzer rot, und dicke Fäden Blut zogen sich zwischen seinen Beinen.
      Das Licht erlosch.
      Ich schrie in die tosende Dunkelheit. Metallteile und kleine Scherben regneten auf mich herab, ich kniff die Augen zu und erwartete meinen Tod. Unzählige kalte Hände stießen mich, an der Brust, am Kopf, am Arm, überall zog und schob und schlug es.
      Einmal konnte man Glück haben. Aber ein zweites Mal?
      Neben mir rammte sich ein Stück Stahl schlierend in den Boden, ein anderes traf mein Ohr. Ich hatte Angst um meine eingeklemmten Glieder.
      Schlagartig war es wieder still. So still, dass ich meinen Herzschlag hörte. Das lauteste Geräusch erzeugte mein Blut, das mit doppelter Geschwindigkeit durch meinen Körper zu rauschen schien.
      Mühsam zerrte ich meine freie Hand unter einem Stück Metall hervor und tastete meine Brust ab, um sicherzugehen, dass kein wirkliches Gewicht die atemraubende Beklemmung in mir auslöste. Ich fuhr mir mit der Hand über mein Hemd bis zum Bauch, wo mich nach wie vor der Stahl gefangen hielt. Einzig die Stille und die Dunkelheit lösten ein nie zuvor gespürtes Gefühl der Beengung aus. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung.
      Schwärze. Vollständige Dunkelheit.
      Und absolute Stille.
      Meine Lage hatte sich nicht verändert, ich war weiterhin genauso eingeklemmt wie vorher. Wieder prüfte ich die Fingerspitzen meines rechten Arms und ließ die Füße sich berühren. Es klappte, alles war in Ordnung. Nur mein Ohr pochte, aber es blutete nicht. Soviel konnte ich mit meiner Hand feststellen.
      War der Schrott einfach in Bewegung geraten oder hatten die Bergungsarbeiten begonnen? Würden sie mich am Ende töten, wenn sie mich retten wollten? Hatten sie mich gehört?
      Ich rief um Hilfe, während meine Hand nach Metall tastete. Ich fand eine Schraube, so lang wie mein kleiner Finger, und mit ausgestrecktem Arm suchte ich den Puffer, ohne Erfolg, also hämmerte ich einfach gegen das nächstbeste Metall.
      Ich schlug dreimal, zählte bis zehn und horchte, mehrmals, aber niemand antwortete. Wahrscheinlich hatte ich eine lose Stange getroffen, die zwischen Gummischläuchen lag und mein Klopfen nicht weiterleitete. Enttäuscht legte ich die Schraube neben meinem Brustkorb ab.
      Wie ging es dem Mädchen?
      „Hallo. Hörst du mich?“, meine Stimme klang klein und erstickt. Ich räusperte mich, rief halbherzig, „Sag was, Mädchen. Hallo!“
      Stille.
     
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