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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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genauso wahrscheinlich. Unglaublich, wie tief die Angst einer Jugend im Kalten Krieg sitzen konnte.
      Jeden Abend, wenn meine Mutter beim Essen die Nachrichten auf unserem Schwarzweißfernseher schaute, wo in den neuesten Hochrechnungen die Waffenarsenale der beiden Supermächte verglichen wurden, das kontinuierliche Gegenrechnen von Raketen und Sprengköpfen, Panzern und Armeen wurde mir die Vergänglichkeit meines jungen Lebens eindrucksvoll veranschaulicht.
      Meine Freunde und ich spielten Nachmittag für Nachmittag mit unseren Arsenalen kleiner und großer Soldaten und zu Armeen umfunktionierten Playmobilhorden. Wir stahlen sogar die Kreide aus der Schule, um unsere Soldaten gegenseitig damit zu beschießen, weil man so sah, wo sie getroffen waren. Durch die Kreide konnten wir entscheiden, ob sie verwundet oder tot und endgültig aus dem Kampfgeschehen ausscheiden, oder, je nach Schweregrad der Verletzung, ein bis drei Runden aussetzen mussten.
      Stirbt man so, fragte ich mich, driftet man kontinuierlich zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Zog mein Leben schon an mir vorbei, ohne dass ich es merkte? Ich hatte mich schon lange nicht mehr an meine Kindheit erinnert. Es war, als hätte ich erst mit dem Studium begonnen zu leben.
      An der Uni hatte ich bereits in den ersten drei Tagen die Freunde getroffen, die mich das ganze Studium begleiten sollten, mit denen ich lernte, feierte und Beziehungen hatte, und die ich nach Beendigung des Studiums allesamt aus den Augen verlor. Wir hatten viel gefeiert, zu lernen brauchte ich nicht, noch nie, von jeher flog mir alles zu, vor allem, was Zahlen betraf. Da war mein Beruf nur logisch.
      Ich war Broker, rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr und in einem Schaltjahr noch einen Tag länger. Weil die Börse nie ruhte, weil das Leben nie ruhte, weil Nachrichten und Gerüchte aus aller Welt die Kurse an den Börsen beeinflussten. Aufgrund dessen an den richtigen Fäden zu ziehen und durch Wissen und Information einen finanziellen Vorteil erreichen, im Idealfall schneller als die Konkurrenz, das machte den Reiz aus, das war Macht. Das Geld kam von alleine. Mir war egal, ob die Börse stieg oder fiel. Am Ende der Woche stand der Gewinn. Anerkennung gab es von höher gestellten Persönlichkeiten der Branche, und solche Anerkennung zählte doppelt. Um wirklich gut zu sein, war ich stets up to date, damit ich jederzeit reagieren konnte, immer, überall.   
      Außer hier unter einer Lokomotive. Aber selbst heute hatte ich Glück gehabt. Die Optionen im Depot bewegten sich lediglich im siebenstelligen Bereich und waren bis auf den Weizen alle eher konservativ ausgerichtet. Auch ging ich davon aus, heute noch im nachbörslichen Termingeschäft tätig werden zu können. Bis acht Uhr, das musste zu schaffen sein. Im Prinzip brauchte nur ein Kran die Lokomotive etwas anzuheben, und ich wäre frei. Danach der obligatorische Check durch einen Arzt in der Klinik, darum würde ich wohl nicht herumkommen.
      Immerhin würde es der Chefarzt sein, ich war topversichert. Er würde sicherlich Verständnis dafür haben, wenn ich ihm meine beruflichen Bedürfnisse schilderte. Sollte er dennoch Bedenken hegen, würde ich ihm einen Cut meines Gewinns anbieten.
      Ich müsste doch mittlerweile die Hunde hören! Rettungshunde, zum Aufspüren Verschütterter.
      „Hilfe!“, rief ich wieder.
      Nichts.
      Nur dieses Gefühl beobachtet zu werden.
      Vielleicht ist das auch ein ganz normales, menschliches Gefühl, wenn man sich in einer unübersichtlichen Umgebung befindet. Rechts war die Sicht blockiert, links konnte ich keine vier Meter weit schauen. Und das bedeutete schon, durch zahlreiche Streben und Schatten peilen zu müssen.
     
     
    Markus hatte ich damals auf dem Parkett kennen gelernt, als wir dort unsere Sporen verdienen mussten. Er arbeitete für die Konkurrenz. Wir waren Rivalen, aber wir betrachteten uns mit Respekt und die Arbeit als Wettkampf. Als er zu unserem Team wechselte, änderte sich daran wenig. Weiterhin verglichen wir unsere Zahlen, allerdings sah es besser aus, wenn man privat, wenn man das so nennen konnte, mit Leuten aus dem eigenen Hause verkehrte. Natürlich war die Börse ständiges Thema, und wenn einer so schlau gewesen wäre, uns beim Squash zu belauschen, dann hätte er einiges Geld machen können, aber die meisten Menschen waren eben dumm.
      Markus und ich spielten regelmäßig Squash. Squash war kein Trendsport aber extrem gut
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