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Die Liebesluege

Titel: Die Liebesluege
Autoren: Sissi Flegel
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entgegnete Charly mit unschuldiger Miene, kreuzte die Arme vor der Brust und schnipste mit den Fingern. »Drei - zwei - eins. Gordon, leg los!«
    Er schoss ihr einen wütenden Blick zu.
    »Das ist das Haus, in dem wir Jungs untergebracht sind«, begann er die Führung gefasster, als Elena es für möglich gehalten hatte. »Es ist, wie Sie sehen, weit von dem Haus
der Mädchen entfernt. Weit, jedoch, wie Sie sich denken können, nicht immer weit genug.«
    Die Zuhörer lachten.
    »Vielleicht wundern Sie sich über den Namen: Haus Shelley. Nun, er hängt mit der Historie des Ortes zusammen.«
    Gordon schilderte, wie die englischen Romantiker, Byron und Shelley, einige Zeit am Genfer See zugebracht hatten und Mary, Shelleys Geliebte, während des schneereichen Winters die Geschichte von Frankenstein schrieb. »Er erschuf das Monster und wurde dadurch auch zu einem - einem Monster, das die Verantwortung für sein Werk nicht übernahm, nicht übernehmen konnte. Er floh vor seinem Geschöpf, das er aus Leichenteilen zusammengestückelt hatte …«
    »Igitt! Wie sah das Monster aus?«, rief ein kleines Mädchen mit einem Pferdeschwanz.
    »Wie sah das Monster aus?«, rief Gordon theatralisch, trat ein, zwei Schritte beiseite, und in diesem Augenblick flog die Tür auf. Wie ein Jahrmarktschreier gekleidet stand Poldy im Rahmen.
    »Das Monster!«
    Riesengroß, in Lumpen, mit knochendürren Armen, mit Händen voll eiternder Geschwüre - und einem Gesicht, das ein einziger Albtraum war.
    Die Zuhörer klatschten und riefen: Ohhh und: Uhhh und: wie schrecklich! Es WAR schrecklich; selbst Elena, die sich noch lebhaft an die Nacht der Taufe erinnerte, schrak bei seinem Anblick ein bisschen zusammen.
    » Du bist mein Herr, doch ich bin dein Gebieter !«, tönte es mit hohler Stimme. Es schwankte, stakste rückwärts, dann schlug die Tür zu.
    »In der Tat! Das Monster war zum Gebieter Frankensteins
geworden und verlangte von ihm, er müsse ihm eine Gefährtin schaffen …«, fuhr Gordon fort. Gebannt hingen die Zuhörer an seinen Lippen. Elena fragte sich, wie, um alles in der Welt, er den Bogen zum Internat schlagen würde - und da, als hätte er ihre Gedanken gehört, sagte er: »Uns allen ist Frankenstein eine Warnung, denn die Geschichte lehrt uns: › Behandle eine Person schlecht, und sie wird verrucht werden‹.«
    Elena stutzte. Hatte nicht Miss Reeves am ersten Abend diese Worte zitiert? Sie biss sich auf die Unterlippe. Bedeutete es, man dürfe Böses nicht mit Bösem vergelten? Gordon fuhr fort: »›Vergilt Zuneigung mit Verachtung, und du bürdest dem Wesen unwiderstehliche Zwänge auf: Bosheit und Selbstsucht .‹ Damit das nicht geschieht, bemühen wir Rosianer uns um ein faires Miteinander, wir -«
    Die Zuhörer murrten unwillig, als sich eine Person rücksichtslos den Weg aus der Menge bahnte. »Ist Ihnen nicht gut?«, hörte Elena eine Stimme. Sie war nicht groß genug, um über die Köpfe der Zuhörer blicken zu können; aber als die Gestalt mit schnellen Schritten zwischen den Bäumen verschwand, runzelte sie die Stirn. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie die Frau gesehen, und etwas war ihr bekannt vorgekommen; die Kleidung oder das Tuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, war es nicht gewesen …
    »Folgen Sie mir nun ins Haus«, sagte Gordon gerade, worauf sich die Zuhörer in Bewegung setzten.
    »Das kennen wir.« Charly hakte sich bei Elena ein. »Nicht schlecht, was? Die beiden haben sich etwas einfallen lassen. Übrigens - hast du Poldys Eltern gesehen? Sie stehen auf der Liste, also haben sie sich angemeldet.«
    »Woher weißt du das?«

    »Von Max.«
    »O … Dann weißt du also von ihm, dass meine Eltern nicht kommen?«
    »Ja. Bist du sauer, Elena?
    Bin ich sauer ?, fragte sie sich. »Ich finde es blöd, dass ihr meine Gefühle schonen wollt und mir nicht gesagt habt, dass sie definitiv nicht kommen werden.«
    »Jetzt mach kein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!« Charly fasste sie an der Hand. »Stell dir vor, du müsstest dich wie Swetlana für deine Eltern in Grund und Boden schämen! Da ist es doch allemal besser, sie sind überhaupt nicht hier, oder?«
    Sie schlenderten über den Rasen und winkten Jem zu, der mit seinen Geschwistern auf einer Bank saß, gingen um einen Fliederbusch herum und - standen vor der Frau mit dem Kopftuch. Elena stutzte; plötzlich schoss ihr das Blut ins Gesicht. »Stefanie!«
    »O, hallo, Elena.« Stefanie schob die Sonnenbrille hoch. »So sieht man sich wieder.
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