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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad
Autoren: Paullina Simons
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Griff und zieh daran. Dann geht die Tür auf. Du gehst hinaus. Und hinter dir schließt sie sich wieder. Lass uns doch mal sehen, ob du es schaffst.«
    »Mach einfach die Tür auf, Tania«, erwiderte Pascha. »Kannst du nicht sehen, dass ich meinen Koffer in der Hand habe?« Draußen auf der Straße blieben sie einen Moment lang stehen. »Tania«, sagte Papa, »kauf uns von den hundertfünfzig Rubel, die ich dir gegeben habe, etwas zu essen. Aber trödel nicht wie sonst immer. Hörst du?« »Ja, Papa. Ich gehe sofort.«
    Pascha schnaubte. »Du kriechst bestimmt gleich wieder ins Bett«, flüsterte er ihr zu. Mama sagte: »Kommt, lasst uns lieber gehen.« »Ja«, erwiderte Papa. »Komm, Pascha.« »Bis dann«, sagte Tania und knuffte Pascha in die Seite. Statt einer Antwort grunzte er nur unglücklich und zog sie an den Haaren. »Bind dir die Haare zusammen, bevor du auf die Straße gehst!«, forderte er. »Du erschreckst sonst die Passanten.«
    »Halt den Mund«, erwiderte Tania lässig. »Sonst schneide ich sie ganz ab.«
    »Kommt schon«, drängte Papa und zog Pascha am Arm. Tatiana verabschiedete sich von Wolodja, winkte ihrer Mutter zu, warf dem zögernden Pascha einen letzten Blick zu und ging wieder nach oben.
    Deda und Babuschka hatten sich mit Dascha auf den Weg zur Bank gemacht, um ihre Ersparnisse abzuheben. Tatiana war ganz allein zu Hause. Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie auf ihr Bett.
    Sie und Pascha waren erst spät in diese Familie hineingeboren worden. Sie wäre besser schon 1917 zur Welt gekommen, wie Dascha. Nach ihr hatte es noch andere Kinder gegeben, aber sie waren nicht lange am Leben geblieben: zwei Jungen, die 1919 und 1921 geboren wurden, starben an Typhus. Ein Mädchen, das 1922 zur Welt kam, starb 1923 an Scharlach. Als Lenin 1924 starb, konnte Stalin seine Macht ausweiten. In diesem Jahr gebar eine sehr müde, zweiunddreißigjährige Irina Fedo-rowna im Abstand von sieben Minuten Pascha und Tatiana. Die Familie hatte mit einem lang ersehnten Jungen gerechnet. Tatiana kam völlig überraschend. Kaum jemand bekam Zwillinge. Und die Metanows hatten keinen Platz für zwei weitere Kinder. In den ersten drei Jahren ihres Lebens teilten sich Tatiana und Pascha ein Kinderbettchen. Danach schlief Tatiana mit Dascha zusammen.
    Trotz dieses notdürftigen Arrangements war es sehr eng in dem kleinen Raum. Dascha konnte nicht heiraten, weil Tania dort schlief, wo Daschas zukünftiger Ehemann eigentlich liegen sollte. Dascha hatte das Tatiana schon oft vorgeworfen. Sie sagte immer: »Wegen dir werde ich noch als alte Jungfer sterben.« Und Tatiana gab dann immer zurück: »Hoffentlich bald. Dann kann ich wenigstens heiraten und meinen Mann neben mir schlafen lassen.«
    Nachdem Tatiana im letzten Monat die Schule abgeschlossen hatte, hatte sie begonnen zu arbeiten. Sie wollte nicht schon wieder einen ganzen Sommer in Luga damit zubringen, müßig in den Tag hineinzuleben, zu lesen, zu rudern und alberne Kinderspiele auf der staubigen Straße zu spielen. Tatiana hatte alle Sommer ihrer Kindheit in der Datscha in Luga und am nahe gelegenen Umensee in Nowgorod verbracht, wo die Eltern ihrer Kusine Marina eine Datscha besaßen.
    Früher hatte Tatiana sich immer auf die Gurken im Juni, die Tomaten im Juli und die Himbeeren im August gefreut, sie war ganz erpicht darauf gewesen, Pilze und Heidelbeeren zu sammeln und im Fluss zu angeln. Aber dieser Sommer würde anders werden.
    Tatiana merkte, dass sie es leid war, ein Kind zu sein. Andererseits wusste sie aber auch nicht, wie sie es ändern sollte, deshalb nahm sie die Stelle in den Kirow-Werken im Süden von Leningrad an. Dort zu arbeiten hatte schon etwas sehr Erwachsenes. Außerdem las sie jetzt jeden Tag die Zeitung, schüttelte den Kopf über Frankreich, über Marschall Petain, über Dünkirchen und über Neville Chamberlain. Sie versuchte, sich ernsthaft zu geben, und nickte bedächtig zu den Krisen in den Niederlanden und dem Fernen Osten. Das waren Tatianas Konzessionen ans Erwachsensein - Kirow und die Prawda. Sie mochte ihre Arbeit bei Kirow, der größten Fabrik in Leningrad und wahrscheinlich der ganzen Sowjetunion. Tatiana hatte gehört, dass irgendwo in der Fabrik Panzer gebaut wurden. Aber sie war skeptisch. Sie hatte noch keine gesehen. Sie arbeitete in der Silberwaren-Abteilung. Ihre Aufgabe war es, Messer, Gabeln und Löffel in Schachteln zu packen, und damit war sie das vorletzte Glied in der Kette der Produktherstellung. Das
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