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Die lieben Patienten!

Die lieben Patienten!

Titel: Die lieben Patienten!
Autoren: Robert Tibber
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»Ich sehe wirklich keinen Plättbrettbusen, hervorstehende Schulterknochen, sichtbaren Hängebauch...«
    »Ich hatte nur die gesunde Schizothymie im Auge, während du von der kranken oder schizoiden Persönlichkeit sprichst«, fuhr Caroline fort, ohne sich beirren zu lassen. »Du mußt lernen, der Enge des psychiatrischen Blickfeldes zu entkommen. Du blickst die Welt durch die Brille des Irrenarztes an.«
    »Keineswegs«, verteidigte ich mich. »Zum mindesten bis jetzt noch nicht.«
    »Um auf Sylvia hier zurückzukommen: Indem du ihre äußerliche Beschaffenheit betrachtest, wirst du ihre geistigen Regungen erkennen.«
    »Wie bei einer Kirche?« fragte Sylvia.
    Caroline beachtete sie nicht. »Typisch schizophrene Konturen: eiförmiger Kopf mit engelhaftem Gesicht und schlankem Körper. Wir wissen, daß ihr gesamtes Nervensystem zart ist, sie ist wechselnden Stimmungen unterworfen und Depressionen, verbreitet eine Atmosphäre der Distanz um sich, ist ein Sklave ästhetischer Einzelheiten...«
    Ich konnte ein kriegerisches Funkeln in Sylvias Augen erkennen, als sie sagte: »Das ist äußerst interessant, Caroline. Warum erzählst du uns nicht auch etwas über dich selbst?«
    »Oh, ich und der Dok hier gehören einem ganz anderen Gestalttypus an«, erklärte Caroline. »Wir zwei sind das, was man Pykniker oder Zyklothyme nennt, nicht zu verwechseln mit überfütterten Asthenikern. Obwohl wir zufällig zu der gleichen morphologischen Gruppe gehören, sind sich unsere Charaktere jedoch nicht im geringsten ähnlich. Nehmt zum Beispiel mich: gutherzig, mit sonnigem Gemüt, schnell mit allen Leuten befreundet, sozial, mit einer leichten Vorliebe für Komfort, Mangel an Gefühl, an Pathos und Idealismus; kurzgefaßt einer der durchschnittlichen Zyklothyme von gemäßigter Rührseligkeit. Nun zum Dok...«
    »Es tut mir leid«, wandte ich ein, »aber ich muß mit meiner Praxis beginnen. Erzähle es Sylvia. Ich bin sicher, daß sie unendlich gern wissen möchte, was sich hinter meiner Struktur verbirgt.«
    »Unglücklicherweise habe ich das bereits selbst entdeckt«, sagte Sylvia und stand auf. »Bitte entschuldige mich, ich muß die Kinder zur Schule bringen.«
    »Natürlich«, erwiderte Caroline; nicht im geringsten beleidigt, lächelte sie Sylvia an. »Eins habe ich in meiner Beurteilung von dir noch nicht erwähnt, Liebe. Der höfliche, sensible schizothyme Mensch hat gewöhnlich einen Fehler in seinem sonst klaren, stolzen Charakter: das ist eine heftige Antipathie gegen bestimmte Persönlichkeiten.«
    Sylvia blickte sie fest an. »Und wie reagieren die bestimmten Persönlichkeiten auf diese Antipathie?«
    »Auf Zyklothyme macht das überhaupt keinen Eindruck«, antwortete Caroline freundlich.
    Es war wirklich eine Erlösung, in die Sprechstunde gehen zu können. Als ich durch den überfüllten Warteraum in mein Sprechzimmer ging, dachte ich daran, wie schön es werden würde, wenn ich meinen Assistenten hätte und wir beide die Arbeit in der halben Zeit erledigen und mehr Zeit für jeden Patienten haben würden.
    Nach der gestörten Nachtruhe erschienen mir die Sitzungen,
    die mir jetzt bevorstanden, als Herkulesarbeit. Man kann einen übermüdeten Geschäftsmann nicht mit einem erschöpften Arzt vergleichen. Während der erstere nach einer durchwachten Nacht seine Sekretärin anbellen, seinen Kunden verärgern oder ein Geschäft verderben kann, könnte der letztere, wenn er nicht auf seiner Hut wäre, eine falsche Diagnose stellen, die den Tod zur Folge haben könnte. Schon in guten Zeiten war die Morgensprechstunde, in der man so um vierzig Patienten herum zu untersuchen hatte, eine Folter.
    Die ersten strengten gewöhnlich nicht allzusehr an. Man konnte sogar noch ein fröhliches Lächeln zustande bringen.
    »Guten Morgen, Mrs. Smith.«
    »Morgen.«
    »Schönes Wetter heute früh.«
    »Bin schon ’ne Stunde hier. Wollte die erste sein.«
    »Gut. Wo fehlt’s?«
    »Der Magen.«
    »Was ist mit dem Magen?«
    »Behält nix drin.«
    »Sie meinen, Sie müssen sich nach dem Essen übergeben?«
    »Ist nicht das Essen. Ich esse nie was. Ich kann nicht.«
    »Aha. Wie steht’s mit Ihrem Gewicht?«
    »Weiß nicht.«
    »Haben Sie bemerkt, daß Ihr Rock fester oder loser sitzt?«
    »Loser.«
    Ich notierte mir »Gewichtsverlust«.
    »Ist meiner Schwester ihrer.«
    Ich strich es wieder aus.
    »Schlafen Sie gut?«
    »Wenn sie mich lassen.«
    »Was essen Sie zum Frühstück?«
    »Wurst.«
    »Ich dachte, Sie sagten, daß Sie nie etwas
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