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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse
Autoren: Muriel Barbery
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Welle des Kauvergnügens. Die süßen Paprikaschoten, ölig und frisch, besänftigten meine von der männlichen Strenge des Fleisches beherrschten Geschmacksknospen und bereiteten sie erneut auf diesen mächtigen Angriff vor. Es gab von allem im Überfluß. Zwischendurch tranken wir in kleinen Schlucken jenes Mineralwasser, das man auch in Spanien findet, zu dem es jedoch in Frankreich kein echtes Gegenstück gibt: ein spritziges, freches und belebendes Wasser, weder fad noch übermäßig prickelnd. Wenn wir, satt und ein bißchen benommen, schließlich die Teller wegschoben und an unserer Bank eine nicht vorhandene Rückenstütze suchten, um uns behaglich zurückzulehnen, brachte der Kellner den Tee, schenkte ihn gemäß dem festgelegten Ritual ein und stellte auf den sehr flüchtig abgewischten Tisch einen Teller mit Cornes de gazelle. Niemand hatte mehr Hunger, aber genau so soll es ja sein, wenn die Backwaren an der Reihe sind:
    Sie können in ihrer ganzen Subtilität nur gewürdigt werden, wenn wir sie nicht essen, um den Hunger zu stillen, und wenn diese Orgie von gezuckerter Süße kein primäres Bedürfnis befriedigt, sondern vielmehr unseren Gaumen mit dem Wohlwollen der Welt überzieht.
    Falls meine Suche mich heute irgendwohin führen sollte, wird es wohl nicht weit entfernt sein von diesem Kontrast: dem unglaublichen Kontrast – Quintessenz der Zivilisation – zwischen der herben Kraft eines einfachen Fleisches und der verschwörerischen Zärtlichkeit einer überflüssigen Leckerei. Die ganze Geschichte der Menschheit, des Stammes empfindsamer Räuber, die wir sind, wiederholte sich in geraffter Form in diesen Mahlzeiten von Tanger, und das erklärt auch, weshalb sie ein solches Frohlocken in uns auszulösen vermochten.
     
    Nie wieder werde ich in jene schöne Stadt am Meer zurückkehren, wo man im Hafen ankommt, dem Zufluchtsort, den man während der Schrecken des Sturms so sehr herbeigesehnt hat – nie wieder. Aber was bedeutet das schon? Ich bin meiner Erlösung auf der Spur. Hier, auf diesen direkten Wegen, wo das Wesen unseres Menschseins erprobt wird, weit weg vom Nimbus der fürstlichen Gelage meiner Kritikerkarriere, muß ich jetzt das Instrument meiner Befreiung suchen.

Georges
Rue de Provence
     
     
    Das erste Mal war es bei Marquet. Man muß das gesehen haben, man muß dieses große Raubtier mindestens einmal im Leben gesehen haben, wie es vom Speisesaal Besitz ergreift, diese löwenhafte Majestät, dieses königliche Neigen des Kopfes, um den Maître d’hôtel zu grüßen, als Stammkunde, als hoher Gast, als Besitzer. Er bleibt stehen, fast mitten im Raum, er plaudert mit Marquet, die eben aus ihrer Küche kommt, aus ihrem Refugium, er legt ihr die Hand auf die Schulter, während sie sich zu seinem Tisch begeben. Es sind Leute um sie herum, sie reden laut, sie strahlen alle in einer Mischung aus Arroganz und Anmut, aber man spürt genau, daß sie ihn verstohlen belauern, daß sie in seinem Schatten glänzen, daß sie an seiner Stimme hängen. Er ist der Gebieter, und im Kreise seines Hofstaates verfügt er, während sie schwatzen.
    Der Oberkellner mußte ihm wohl zugeflüstert haben: »Heute ist einer Ihrer jungen Kollegen hier, Monsieur.« Er drehte sich nach mir um, blickte mich kurz prüfend an, wobei ich mich bis in meine innerste Mittelmäßigkeit hinein geröntgt fühlte, wandte sich wieder ab. Und schon lud man mich ein, mich an seinen Tisch zu setzen.
    Es war eine masterclass, einer jener Tage, an denen er, in die Rolle des geistigen Führers schlüpfend, die Blüte der jungen europäischen Gastronomiekritik zum gemeinsamen Mittagsmahl lud und als zum Prediger gewordener Oberpriester von seiner Kanzel herab einige atemlos staunende Anhänger das Handwerk lehrte. Der Papst thronte inmitten seiner Kardinäle: Es lag etwas von einer pompösen Messe in diesem gastronomischen Konzil, wo er uneingeschränkt über eine andächtige Elite herrschte. Die Regel war einfach. Man aß, man kommentierte nach Belieben, er hörte zu, das Urteil wurde gefällt. Ich war gelähmt. Wie der ehrgeizige, aber schüchterne junge Mann, den man beim Paten einführt, wie der Provinzler bei seiner ersten Pariser Soiree, wie der glühende Verehrer, der auf die Diva trifft, der kleine Schuster, der dem Blick der Prinzessin begegnet, der junge Autor, der zum ersten Mal den Tempel des Verlags betritt – wie sie war ich versteinert. Er war Christus, und bei diesem Mahl war ich Judas, nicht, weil ich ihn
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