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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse
Autoren: Muriel Barbery
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wie die Schauspieler in den Anfängen des Stummfilms, die sich mit den beschleunigten und ruckartigen Gebärden von Irren bewegten – ist er wieder in Reichweite meiner Stimme. Ich schluchze vor Erleichterung, sehe, wie sie sich verkrampfen vor Angst, beruhige sie mit einer armseligen Geste, während Anna herbeieilt, um das Kissen aufzuheben.
    »Nicht … bei … Lenôtre«, krächze ich, »bloß nicht … bei … Lenôtre … Geh … nicht … zu … einem … Konditor … Ich … will … Choux … in … einer … Plastiktüte … von … Leclerc.« Ich atme konvulsiv. »Weiche … Choux … Ich … will … Chouquettes … vom … Supermarkt.«
    Und während ich ihm tief in die Augen schaue, während ich die ganze Kraft meines Verlangens und meiner Verzweiflung in meinen Blick lege, weil es zum ersten Mal im wahren Sinn des Wortes um Leben und Tod geht, sehe ich, daß er verstanden hat. Ich spüre es, ich weiß es. Er nickt zögernd, und in diesem Nicken blitzt eine Reminiszenz an unser altes inniges Einvernehmen auf, das schmerzlich wiedererwacht, in einem heiteren und besänftigenden Schmerz. Ich brauche nicht mehr zu sprechen. Während er fast hinausrennt, lasse ich mich in die wohlige Watte meiner Erinnerungen gleiten.
     
    Sie erwarteten mich in ihrer durchsichtigen Plastikverpackung. Auf dem hölzernen Verkaufsständer geduldeten sich die Tüten mit Chouquettes neben den abgepackten Baguettes, den verschiedenen Sorten Vollkornbrot, den Brioches und den Flans. Da man sie dort auf einen Haufen geworfen hatte, ohne Sinn für die Kunst des Konditors, der sie liebevoll und schön locker auf einem Ständer vor dem Ladentisch anordnet, klebten sie am Boden des Säckleins zusammen, dichtgedrängt wie schlafende Welpen in der friedlichen Wärme des Wurfs. Vor allem aber hatten sie, noch warm in ihre letzte Ruhestätte gebettet, jenen maßgeblichen Dunst entwickelt, der sich im Verpackungsinneren niederschlug und damit ein für das Aufweichen günstiges Milieu schuf.
    Für die wahre Chouquette gilt das gleiche wie für jeden Brandteig, der etwas auf sich hält. Sowohl Weichheit als auch Härte müssen vermieden werden. Der Windbeutel etwa darf weder elastisch noch schlaff, weder brüchig noch aggressiv trocken sein. Seine Größe besteht darin, zart zu sein ohne Schwäche und fest ohne Strenge. Die heikle Aufgabe des Konditors, der ihn mit Creme füllt, ist es nun, zu verhindern, daß sich das Weiche der Füllung auf den Windbeutel überträgt. Ich habe über mißratene Windbeutel schon gehässige und ruinöse Artikel geschrieben, brillante Seiten über die entscheidende Bedeutung der Grenze bei der Herstellung von Windbeuteln mit Creme – über den schlechten Windbeutel, der sich praktisch nicht mehr abhebt von der Butter, die ihn von innen her überzieht, dessen Charakter in der Trägheit einer Substanz untergeht, der er doch mit dem Fortbestand seines Andersseins hätte begegnen sollen. Oder etwas in der Art.
    Wie kann man sich nur in diesem Maße selbst verraten? Welche noch größere Korruption als jene der Macht bringt uns dazu, unsere so offenkundige Lust zu verleugnen, zu verabscheuen, was wir einst geliebt haben, unseren Geschmack derart zu verzerren? Ich war fünfzehn, ich kam aus dem Gymnasium, hungrig, wie man es in diesem Alter sein kann, auf eine wahllose, ungestüme Art und doch mit einer Seelenruhe, an die ich mich erst heute erinnere, und die genau das ist, woran es meinem Werk so sehr fehlt. Meinem ganzen Werk, das ich heute abend ohne Bedauern, ohne die geringsten Gewissensbisse oder die leiseste Sehnsucht für eine einzige und letzte Chouquette vom Supermarkt hergeben würde.
    Ich riß die Tüte rücksichtslos auf, zog am Plastik und vergrößerte mit ein paar fahrigen Bewegungen das Loch, das ich in meiner Ungeduld schon gemacht hatte. Ich langte mit der Hand hinein, ich mochte die klebrige Berührung mit dem Zucker nicht, der durch den Niederschlag des Dampfes an der Innenseite haftengeblieben war. Ich löste vorsichtig eine Chouquette von ihren Artgenossen, führte sie andächtig zum Mund, schloß die Augen und verschlang sie.
    Man hat viel geschrieben über den ersten Bissen, den zweiten und den dritten. Man hat viel Richtiges gesagt zu diesem Thema. Es stimmt alles. Doch es reicht bei weitem nicht an das Unaussprechliche dieser Empfindung heran, das Unaussprechliche dieser leichten Berührung und dann dieses feuchten Teigs, der in einem orgastisch gewordenen Mund zermanscht wird. Der mit
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