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Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder

Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder

Titel: Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Autoren: Robin Hobb
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entfernt. Mehr konnte man von mir nicht erwarten. Also saß ich in meinem Bett und schaute zu.
    Ich sah das Dorf aus seinem friedlichen Schlummer zu grausiger Wirklichkeit erwachen: den rohen Griff einer fremden Hand an Kehle oder Brust, einen über der Wiege gezückten Dolch oder das Weinen eines aus dem Schlaf gerissenen Kindes. Lichter flammten auf – manchmal Kerzen, rasch entzündet, um zu sehen, was des Nachbarn Aufschrei zu bedeuten hatte; manchmal Fackeln oder die ersten Flammen aus brennenden Häusern. Obwohl die Roten Korsaren seit mehr als einem Jahr die Sechs Provinzen heimsuchten, hatte man in Syltport geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein. Man hatte die Schreckensmeldungen vernommen und beschlossen, ihnen werde das nicht widerfahren. Aber die Häuser brannten, und die Schreie stiegen zum Himmel, wie vom Rauch emporgetragen.
    »Sprich, Narr«, verlangte ich heiser. »Tu einen Blick in die Zukunft für mich. Was erzählt man von Syltport? Einem Überfall auf Syltport im Winter.«
    Er holte stockend Atem. »Es ist nicht einfach zu sehen und auch nicht deutlich«, meinte er zögernd. »Alles ist verschwommen, im Wandel begriffen. Zuviel ist in Fluß, Majestät. Die Zukunft ergießt sich von dort in alle Richtungen.«
    »Verkünde mir alles, was du sehen kannst«, befahl ich.
    »Man hat über diese Stadt ein Lied gemacht«, begann der Narr mit hohler Stimme. Seine Hand lag immer noch auf meiner Schulter, die Kälte seiner langen, starken Finger drang durch den Stoff des Nachtgewandes. Ein Erschauern wanderte von ihm zu mir oder von mir zu ihm, und ich fühlte, welche Überwindung es ihn kostete, neben mir auszuharren. »Wenn es in einer Taverne gesungen wird und man zum Kehrreim mit den Bierhumpen auf dem Tisch den Takt hämmert, erscheint das ganze Ereignis halb so schlimm. Man preist die Tapferkeit der braven Menschen, die lieber kämpfend untergingen, als sich zu ergeben. Nicht einer, nicht ein einziger der Einwohner wurde verschleppt und entfremdet. Nicht ein einziger.« Der Narr verstummte. Ein Unterton von Hysterie mischte sich in die gezwungene Nüchternheit seiner Stimme. »Natürlich, beim Trunk in geselliger Runde sieht man nicht das Blut. Oder riecht das brennende Fleisch. Oder hört die Schreie. Aber das ist verständlich. Habt Ihr je versucht, einen Reim auf ›ermordetes Kind‹ zu finden? Irgend jemand kam auf ›klagender Wind‹, aber dadurch wurde es auch nicht besser.« Keine Heiterkeit in seinem Wortschwall. Seine bitteren Scherze vermögen weder ihn abzuschirmen noch mich. Wieder verfällt er in Schweigen, mein Gefangener, dazu verurteilt, dieses quälende Wissen mit mir zu teilen.
    Stumm verfolgte ich das Geschehen. Kein Vers berichtete davon, wie Vater oder Mutter ihrem Kind eine Giftkapsel in den Mund schoben, um es nicht in die Hände der Korsaren fallen zu lassen. Wer wollte von den Kindern singen, die sich schreiend unter den Krämpfen des schnell wirkenden Giftes wanden, oder von den Frauen, mißbraucht, während sie sterbend am Boden lagen. Kein Reim, keine Melodie vermochte von den Bogenschützen zu künden, deren beste Pfeile gefangene Freunde töteten, bevor sie fortgeschleppt werden konnten. Ich blickte in das Innere eines brennenden Hauses. Durch die Flammen beobachtete ich einen zehn Jahre alten Knaben, der seine Kehle für den Streich des Messers in seiner Mutter Hand entblößte. Er hielt sein Schwesterchen an sich gedrückt, erwürgt, denn die Roten Schiffe waren gekommen, und kein liebender Bruder würde sie den Mördern oder den gierigen Flammen überlassen. Ich sah die Augen der Mutter, als sie die toten Leiber ihrer Kinder aufhob und mit ihnen im Feuer verschwand. An solche Bilder erinnert man sich nicht gerne, doch mir blieb es nicht erspart. Es war meine Pflicht, diese Dinge zu wissen und im Gedächtnis zu behalten.
    Nicht alle starben. Manche entkamen in die umliegenden Felder und Wälder. Ein junger Mann verbarg sich mit vier Kindern unter der Pier, wo sie sich an die muschelbesetzten Pfähle klammerten, bis die Korsaren verschwunden waren. Andere fanden den Tod, während sie zu fliehen versuchten. Ich sah eine Frau aus einem Haus schlüpfen. Flammen züngelten bereits an der Ecke des Gebäudes empor. Sie trug ein Kind auf den Armen, ein zweites klammerte sich an die Falten ihres langen Nachthemds. Ihr Haar glänzte im Fackelschein. Sie schaute sich ängstlich nach allen Seiten um, doch in der freien Hand hielt sie stoßbereit ein langes Messer. Ich erhaschte
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