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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition)
Autoren: Ruth Dugdall
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schaue mich nach ihm um.
    »Jason ist draußen auf dem Flur. Wie alle Zeugen wird er erst für seine Aussage im Gerichtssaal zugelassen, also vermutlich in ein, zwei Tagen.«
    Mr Thomas hat mir erklärt, dass die Verhandlung zwei Wochen dauern wird.
    Da ertönt ein lauter Summton, und alle erstarren. Stille breitet sich aus. Hastig nimmt Mr Thomas seinen Platz an dem langen Tisch ganz vorne ein und setzt sich eine Perücke auf. Meine Bewacher stehen auf und ziehen mich mit hoch, als die Holztür hinter dem Thron aufgeht.
    Der Richter tritt ein, eine furchterregende Erscheinung in roter Robe und mit weißer Perücke. Er hat ein langes Gesicht und extrem schmale Augen. Irgendwie erinnert er mich an einen Zauberer. Im Gericht fühlt er sich offenbar zu Hause, denn er lässt sich Zeit, schaut sich um und legt seine Unterlagen zurecht, ehe er seinen Platz einnimmt. Daraufhin dürfen auch wir uns wieder setzen.
    »Frau Gerichtsschreiberin«, beginnt er mit lauter, fester Stimme. »Sind die Geschworenen so weit?«
    Die attraktive Frau mit dem glänzenden Bob dreht sich zu ihm um. »Ja, Euer Ehren.«
    Zum ersten Mal spähe ich zu der Gruppe Männer und Frauen hinüber und studiere ihre Mienen. Diese zwölf Personen werden über mein Schicksal entscheiden. Sie wirken ganz normal, wie Menschen, denen man im Supermarkt begegnet. Einige von ihnen sind im Jackett erschienen, ein Mann trägt eine Krawatte, doch der Großteil ist wie für einen Stadtbummel gekleidet. Eine Frau in der ersten Reihe trägt ein hübsches rosa geblümtes Kleid, als hätte sie sich für diesen Anlass herausgeputzt. Allerdings macht sie einen nervösen Eindruck und befingert ihre Hängeohrringe.
    Bitte glaubt mir , flehe ich stumm.
    Die Gerichtsschreiberin wendet sich zu mir um. »Bitte stehen Sie auf, und sagen Sie Ihren Namen.«
    »Rosemary Ann Wilks.« Ich hoffe, niemand hört das Beben in meiner Stimme.
    »Rosemary Wilks, Sie sind des Mordes an Luke Hatcher angeklagt. Plädieren Sie auf schuldig oder nicht schuldig?«
    »Nicht schuldig«, antworte ich so bestimmt wie möglich.
    Die Frau schreibt etwas in ihre Akte. »Wie plädieren Sie in Bezug auf die Anklage wegen Totschlags?«
    Ich sehe zu Mr Thomas hinüber. Er nickt. »Nicht schuldig.«
    »Darf die Angeklagte sich setzen?«
    Der Richter wirkt gelangweilt. »Setzen. Die Anklage hat das Wort.«
    Umgehend springt ein zwergenhafter Mann in schwarzer Robe und mit weißer Perücke auf. Er tritt zu den Geschworenen, mustert sie der Reihe nach, breitet die Arme aus und ruft: »Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen! Denn es gibt Fälle, in denen der engste Freund sich als unser Feind entpuppt. Betrachten Sie Rosemary Wilks. Eine durchschnittlich aussehende Frau Ende zwanzig. Eine Frau, die man auf eine Tasse Tee zu sich einladen könnte.«
    Er macht eine Pause und dreht sich zu mir um. Alle starren mich an, als wäre ich ein Ungeheuer aus einem Skurrilitätenkabinett.
    »So dachte auch Emma Hatcher, als sie Rosemary Wilks in ihr Haus ließ, ohne zu ahnen, welche tückischen Absichten diese Frau hinter ihrem ganz normalen Äußeren verbarg.«
    Langsam schreitet er zur Mitte des Raumes, wie ein Schauspieler, der ins Rampenlicht tritt.
    »Diese Frau hier hat Emma Hatcher systematisch verfolgt. Nachts, wenn Emma schlief, streifte Miss Wilks durch ihr Haus, vernichtete persönliche Gegenstände und, was das Schlimmste war, behauptete anderen gegenüber, Emmas Sohn Luke sei ihr eigenes Kind. Sie ging sogar so weit, den Jungen zu stillen.«
    Die Frau in Rosa schnappt nach Luft.
    »Als Emma schließlich dahinterkam und der Angeklagten jeglichen Umgang mit ihrem Sohn verbot, was tat diese Frau da? Sie schlich sich nachts in Emmas Haus und legte ein Feuer. Luke Hatcher erstickte am Rauch, und sein winziger Körper verbrannte. Diese Frau, diese Durchschnittsperson, die jedermanns Freundin hätte sein können, jedermanns Mutter, ermordete Luke Hatcher. Den Mord, meine Damen und Herren, werde ich Miss Wilks im Verlauf dieser Verhandlung nachweisen.«
    Als er sich setzt, scharrt sein Stuhl über den Boden, und mich überläuft ein Schauder.
    Mr Thomas wartet, bis sich das Raunen im Saal gelegt hat. Als er spricht, klingt er ruhig, ohne jede Theatralik.
    »Auch ich möchte Sie bitten, sich vor Augen zu führen, dass Rose Wilks durchschnittlich aussieht. Und ich werde Ihnen, meine Damen und Herren Geschworenen, nun beweisen, dass Rose so normal aussieht, weil sie genau das ist: eine ganz normale Frau. Sie hat den
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