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Die Lagune Der Flamingos

Die Lagune Der Flamingos

Titel: Die Lagune Der Flamingos
Autoren: Sofia Caspari
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können, für mich und Mina einen neuen Beschützer in ihm zu finden? Wie habe ich ihm nur unser Leben anvertrauen können?
    Sie hatte alles falsch gemacht. Wie immer. Sie war eben dumm. Ihr Vater hatte Recht gehabt.
    »So, und jetzt tisch endlich auf, Weib, und hör auf, Trübsal zu blasen, das ist ja nicht zum Aushalten. Los, los, mein Sohn und ich haben Hunger.«
    Annelie beeilte sich, zum Herd zu kommen. Es gab Kartoffelklöße und großzügige Mengen an Fleisch. Sie gab den beiden Männern auf, nahm sich dann selbst etwas und wartete auf Xavers Tischgebet. Kaum war das Amen verklungen, stopfte sich Philipp auch schon den Mund voll. Fett triefte ihm über das Kinn, hier und da bekam auch sein Hemd etwas ab.
    Warum nur, fuhr es Annelie durch den Kopf, habe ich die Anzeige damals gelesen? Warum nur bin ich hergekommen? Ich habe mein Leben ruiniert, aber noch unverzeihlicher ist, dass ich Minas Aussicht auf ein gutes Leben zerstört habe. Das werde ich nie wiedergutmachen können.
    Ihre Mutter hatte sie noch gewarnt, hatte sie gemahnt, keine solch weitreichende Entscheidung zu treffen. Annelie erinnerte sich, wie sie nachmittags in Mainz bei ihren Eltern beim Kaffee gesessen hatte – bei echtem Bohnenkaffee, wie ihre Mutter immer betonte. Die Mutter hatte meist geschwiegen. Der Vater hatte, wie es sich vielleicht für einen Arzt gehörte, das Leben seiner Tochter schonungslos seziert.
    »Nun«, hatte er irgendwann mit seiner Ehrfurcht gebietenden Stimme gefragt, »du bist jetzt drei Jahre Witwe, was gedenkst du zu tun, um deinen alten Eltern nicht weiter auf der Tasche zu liegen?«
    Während ihr Vater so gesprochen hatte, hatte die Mutter angelegentlich an dem Spitzendeckchen, das auf dem Tisch lag, gezupft. Mina hatte still in einer Ecke gesessen und in einem Buch geblättert. Sie war schon früh ein sehr selbstständiges Kind gewesen.
    Weil ich es nicht bin, dachte Annelie, weil ich nicht selbstständig bin, ist sie es. Ich bin ein armes, schwaches Weib und zu nichts nütze.
    An dem Abend hatte sie die Anzeige gelesen, sie erinnerte sich genau: Ehefrau und Mutter gesucht. Einsamer Witwer …
    Sie hatte sich sofort mit diesem fremden Mann verbunden gefühlt. Er war Witwer. Er war einsam … Das war sie doch auch. Sie war einsam. Sie hatte ihren Mann verloren. Sie hatte gefühlt, nein, sie hatte sich eingebildet, dass sie etwas mit diesem Mann gemeinsam hatte. Ihre Eltern waren gegen ihre Pläne gewesen, wie immer. Zum ersten Mal hatte sie sich gegen sie gestellt. Für Mina.
    Ein Jahr und kaum zwei Briefe später waren Mina und sie auf dem Weg nach Argentinien gewesen. Die Reise war beschwerlich gewesen, aber der Gedanke an das Ziel hatte sie aufrecht gehalten. Es hatte sie die Übelkeit und die Angst ertragen lassen, die Angst vor der Schiffsreise genauso wie die vor der Fremde. Nach Wochen waren sie schließlich in Buenos Aires angekommen. Von dort aus waren sie auf dem Río Paraná weitergereist bis nach Rosario, und dann nach Santa Fe und dann …
    »Was starrst du denn so? Hast du noch nie einen Mann essen sehen?«
    Annelie senkte rasch den Blick, nicht ohne Philipps Grinsen zu bemerken. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich ein niedliches kleines Kind vorgestellt, als sie die Anzeige gelesen hatte. Aber Philipp war bei ihrer Ankunft ein fast erwachsener Mann gewesen, mit strahlend blauen Augen, dunklem Haar und einem schon damals kräftigen, muskulösen Körper. Annelie schauderte, wenn sie an die Blicke dachte, die er neuerdings ihrer Tochter zuwarf.
    »Der Junge lässt nichts anbrennen«, hatte sein Vater kürzlich stolz bemerkt, als Philipp von seiner neuesten Eroberung berichtete.
    Auch Mina war gewachsen, seit sie angekommen waren. Das Mädchen verwandelte sich unaufhaltsam in eine junge Frau. Zwar war sie zierlich, aber ihre Formen, ihr Gang, ihr Betragen waren weiblicher geworden.
    Ich muss sie besser beschützen, fuhr es Annelie durch den Kopf, ich muss sie besser beschützen, doch ich weiß einfach nicht wie.
    Sie hatte zu viel Angst. Sie hatte schon immer zu viel Angst gehabt.
    Frank hielt den Pflug in der Spur, während sein Vater vorn die Ochsen führte. Heiß brannte die Frühjahrssonne auf sie nieder. Auf der anderen Seite der Welt, das hatte ihm seine Mutter Irmelind erzählt, begann im März der Frühling, im Juni fing der Sommer an, der Herbst im September und der Winter im Dezember. Hier, in Argentinien, lagen die Jahreszeiten genau entgegengesetzt. Der Frühling begann im September, der
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