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Die Lagune Der Flamingos

Die Lagune Der Flamingos

Titel: Die Lagune Der Flamingos
Autoren: Sofia Caspari
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verschaffen, meine Süße.«
    Mina überlief ein Schauder. Mit einem Mal erinnerte sie sich der Blicke, die ihr Philipp seit geraumer Zeit zuwarf.
    »Du bist schön«, sagte er, immer noch grinsend.
    »Lass mich los!«, zischte sie ihn an.
    Philipp lockerte seinen Griff ein wenig. Dann packte er Mina plötzlich beim Nacken. Er zwang ihr Gesicht nahe an seines heran.
    »Wie war das?«
    »Lass mich los!«
    »Küss mich.«
    »Niemals.«
    »Wir sind Bruder und Schwester. Komm, gib mir einen schwesterlichen Kuss, Kleine.«
    Mina versuchte, ihr Gesicht zur Seite zu drehen. Es wollte ihr nicht gelingen. Philipps Mund näherte sich. Seine Lippen berührten die ihren, seine fordernde Zunge drängte sich in ihren Mund. Sie wollte am liebsten ausspucken, als er endlich von ihr abließ, doch er drückte ihr den Kiefer so zusammen, dass sie den Mund nicht öffnen konnte.
    »War das nicht schön, mein Täubchen? Denk daran, dein Bock ist weg. Du hast jetzt nur noch mich, und ich bin ohnehin die bessere Wahl.«
    Philipp ließ sie unvermittelt los.
    Mina stolperte von ihm weg. »Verschwinde, du Scheusal!«
    »Immerhin bin ich kein flüchtiger Mörder.«
    »Frank ist kein Mörder.«
    »Er ist geflohen, Kleine. Er ist geflohen, nachdem er den Mörder seiner Schwester getötet hat. Rachemord nennt man das, es wäre nicht der erste auf dieser Welt, liebste Mina.«
    Mina schüttelte sich innerlich. Hatte Philipp etwa Recht? Hatte Frank tatsächlich einen Mord begangen? Aber er hatte seine Schwester doch nie kennengelernt, er kannte die Geschichte nur von seinen Eltern. Konnte ihr Frank …?
    »Gewöhn dich an den Gedanken, ab jetzt bist du allein.«
    Mina zuckte unwillkürlich zusammen, sie konnte nichts dagegen tun. Mit einem Mal war ihr eiskalt.
    Claudius ist tot.
    Auf einen Schlag waren alle Erinnerungen zurück, als wäre das Schreckliche eben erst geschehen. Bilder von der Ankunft in der Fremde, von dem höhergelegenen Flussufer, von den dunkelhäutigen Gestalten, von den Lassos, die wie Schlangen über den wolkenlosen tiefblauen Himmel flogen. Bilder von Vroni, ihrer einzigen Tochter, die gemeinsam mit dem zwei Jahre älteren Claudius auf der Laufplanke stand und kicherte. Und mit den Bildern kamen auch die Gefühle wieder – das eigene Unwohlsein, die Angst um das Kind, die einen nie verließ.
    Es ist nur ein Spaß, hatte sie sich wiederholt zu beruhigen versucht, nur ein Spaß. Es wird nichts passieren.
    Ihre achtzehnjährige Tochter Vroni und Claudius, der Sohn der Liebkinds, hatten schon häufig miteinander gelacht. Vielleicht hatten sie sogar Gefallen aneinander gefunden.
    Irmelind hatte versucht zu lächeln. Dann war auch schon der Schrei ertönt. Wie aus einem Mund. Fast zeitgleich folgte der Sturz der beiden jungen Leute tief hinein ins schmutzig braune Wasser. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Herz stehen geblieben.
    Irmelind drückte unwillkürlich beide Hände gegen die linke Brustseite. Sie stand allein in ihrer Küche und hörte doch die panischen Schreie von damals und die eigene, sich überschlagende Stimme: »Wo sind sie? Wo sind sie? Helft ihnen doch, so helft ihnen doch. Wo ist meine Tochter? O Gott, sie kann nicht schwimmen, meine Vroni kann nicht schwimmen. So helft ihr doch.«
    Dann war Claudius’ Kopf durch die Wasseroberfläche gebrochen. Der junge Mann hatte nach Luft geschnappt und wild mit den Armen gerudert, während sie, Irmelind, nur dagestanden und auf das Wasser gestarrt hatte, das allem inneren Flehen zum Trotz nicht noch einmal aufreißen wollte.
    Erst Tage später hatten sie Vroni gefunden. Bei der Nachricht war Irmelind in Ohnmacht gefallen. Als sie kurz darauf erwachte und die tote Tochter noch einmal sehen wollte, war ihr das nicht erlaubt worden.
    »Behalte sie in Erinnerung, wie du sie gekannt hast«, hatte Hermann zu ihr gesagt. »Behalte sie genau so in Erinnerung.«
    »Claudius Liebkind«, flüsterte Irmelind. »Claudius Liebkind.«
    Sie würde seinen Namen nie vergessen. Kaum zwei Wochen nach der Ankunft hatte er sein Elternhaus bei Nacht und Nebel verlassen. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Auch Cäcilie, Claudius’ Mutter, hatte sie, bis zu jenem Besuch kürzlich, nur noch ein-, zweimal aufgesucht. Nein, Irmelind hatte ihr niemals Vorwürfe gemacht, aber sie war reserviert geblieben. Nie, niemals wieder hatten sie gemeinsam so lachen können wie auf der Reise, die doch auch nicht leicht gewesen war. Aber da hatte Vroni noch gelebt, ihre einzige Tochter.
    »Vroni«,
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