Die Lady in Weiß
den Raum betrat. Admiral Lord Herendon entsprach dem Ideal eines englischen Offiziers und Gentleman, groß und gutaussehend, sein helles Haar leuchtend im Licht der Morgensonne. Desiree lächelte, als sie ihn anblickte, und ihr Gesicht strahlte dabei vor Freude. Er beugte sich zu ihr und küsste sie, eine Hand legte er dabei sanft auf die Rundung ihres Bauches.
Die Vertrautheit und Intimität dieser Begrüßung ließ Jeremiah den Blick auf seinen Teller senken. Wenn es zwei Menschen auf dieser Welt gab, die sich wirklich liebten, dann waren es Desiree und Jack. Auch wenn Jeremiah zu Beginn nicht ganz mit der Wahl seiner Schwester einverstanden gewesen war, so musste er jetzt zugeben, dass ihr diese Ehe Glück und Zufriedenheit gebracht hatte.
Er blickt kurz auf und sah, dass die beiden sich noch immer umarmt hielten. Obwohl sie schon fast fünf Jahre verheiratet waren, benahmen sie sich noch immer so unbefangen wie Jungverliebte.
Jeremiah strich gedankenverloren Butter auf eine Scheibe Toast und dachte daran, wie mutig es war, so sehr zu lieben, wie Jack und Desiree es taten, wie gefährlich es sein konnte, all seine Hoffnung auf Freude und Glück nur von einer einzigen Person abhängig zu machen. Er selbst hatte diese große Liebe niemals kennengelernt, er hatte sich aber auch niemals danach gesehnt. Warum sollte er auch? Das Leben schien ihm zu unsicher und unbeständig für eine solch bedingungslose Hingabe. Zu sehr hatte er bereits unter seinen bisherigen Verlusten gelitten - dem Verlust seiner Mutter, seines Vaters, seines Bruders, seiner Freunde und Kameraden -, als dass er dazu bereit gewesen wäre, noch mehr zu riskieren.
Außerdem war er fast siebenunddreißig Jahre alt, war also schon lange über das Alter hinaus, in dem man sich sentimentalen Schwärmereien hingab. Er liebte die Frauen und genoss ihre Gesellschaft - wieder dachte er vergnügt an Lady Byfield aber noch nie hatte ihm eine so viel bedeutet, dass er seine Freiheit für sie aufgegeben hätte. Und die Frauen selbst, so glaubte er, sahen in ihm wohl auch nicht den perfekten Ehemann.
Er hob den Kopf und sah seine Schwester und seinen Schwager an. Sie gaben sich gerade einen letzten Kuss, ein weiterer Moment voller Zärtlichkeit, die keiner Worte bedurfte, und wieder wandte Jeremiah den Blick rasch ab. Erneut überkam ihn jener Anflug von Bedauern, den er schon vorhin in Gegenwart des kleinen Johnny verspürt hatte. Wie war es wohl, wenn man so sehr liebte und genauso geliebt wurde?
„Du siehst erholt aus, Jeremiah“, stellte Jack fest, als er zu seinem eigenen Platz ging. „Desiree wollte dich schon aufgeben, aber ich wusste, dass ein einziger Hieb nicht ausreicht, einen Mann wie dich zu töten.“
„Ich habe ihn überhaupt nicht aufgegeben!“, sagte Desiree empört. „Ich wusste, er würde nicht sterben. Jeremiah ist einfach zu dickköpfig, um sich von so etwas unterkriegen zu lassen, auch wenn dieser ,einzige Hieb“ eine Wunde hinterlassen hat, die länger war als dein Arm. Hinzu kam dann noch die Infektion, und außerdem trieb er tagelang allein auf hoher See.“
„Es war nicht ganz so schlimm, Desiree“, sagte Jeremiah. Er wünschte, sie könnten über ein anderes Thema sprechen. Er fühlte sich an diesem Morgen tatsächlich viel besser und hatte zum ersten Mal die neue Kleidung angezogen, die seine Schwester für ihn besorgt hatte, nachdem seine eigene verlorengegangen war. Die dunkelgrüne Weste stand ihm nicht schlecht, und auch sonst hatte er größte Sorgfalt auf sein Äußeres gelegt. Die Welt schien ihm heute schöner und verheißungsvoller als in den vergangenen Tagen, und er wollte nicht mehr daran erinnert werden, dass er dem Tod nur knapp entronnen war. „Aber ich denke, ich sollte dir für dein Vertrauen in meine Dickköpfigkeit dankbar sein.“
„Zum Teufel mit der Dickköpfigkeit“, sagte nun Jack, als er sich von dem Schinken und den Eiern nahm, die ein Diener aufgetragen hatte. „Wenn Jeremiah heute Morgen so erholt aussieht, hat er das seiner kräftigen Konstitution und vor allem einer gehörigen Portion Schlaf zu verdanken.“ „Ich habe vergangene Nacht nicht sehr viel geschlafen.“ Jeremiah zog Caros Armbänder und Ohrringe aus seiner Westentasche und schob sie über den polierten Mahagonitisch Jack zu.
Desiree riss überrascht die Augen auf, Jack runzelte die Stirn und legte Messer und Gabel beiseite.
„Ich hatte Besuch“, fuhr Jeremiah fort. „Eine Lady, die sich zuerst irgendwie in mein
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