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Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)

Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)

Titel: Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Autoren: Chris Morgan Jones
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sich. Er war einen Kopf kleiner als Webster und wirkte in seiner maßgeschneiderten Kleidung fast körperlos, und auf irritierende Weise schienen in seinem Innern Leblosigkeit und überbordende Energie im Wettstreit miteinander zu stehen. Webster konnte nicht sagen, wie alt er war, ob vierzig oder fünfzig.
    »Ben Webster«, sagte er. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich hatte ein Meeting.«
    Die Hand des Mannes war kalt, aber trocken, als Webster danach griff, sein knochiger Händedruck war schwach. Er hielt Websters Hand für einen Moment und lächelte ein nichtssagendes Lächeln. Aus der Nähe wirkte seine Haut wächsern, sie spannte sich straff über die Wangenknochen und schien beinahe durchsichtig, seine Augen waren von einem tiefen Petrolgrau und die feinen roten Äderchen im Weiß des Auges die einzige Farbe in seinem Gesicht. Doch was am meisten auffiel, als er sprach, waren seine Zähne: klein und spitz wie die eines Dachses und stark verfärbt, fast schwarz.
    »Sehr erfreut, Mr. Webster.« Seine Stimme war dünn und ein wenig heiser. Er griff in seine Sakkotasche, zückte eine Brieftasche und zog eine Visitenkarte heraus, die er Webster überreichte. Auf dem dicken cremefarbenen Karton standen die Worte Yves Senechal. Avocat à la Cour, Paris. Keine Adresse, keine Telefonnummer. Webster hatte ihn nicht für einen Anwalt gehalten. Denn meist gaben sich Anwälte große Mühe, bei der ersten Begegnung einen freundlichen Eindruck zu machen.
    »Mr. Hammer ist nicht da?«
    »Ich fürchte nicht. Hatten Sie einen Termin?«
    »Ich komme lieber direkt vorbei. Sind Sie sein Partner?«
    »Ich bin sein Mitarbeiter.«
    Senechal dachte einen Moment nach, jetzt lächelte er nicht mehr.
    »Also gut. Können wir irgendwo ungestört reden?«
    Webster nickte und führte ihn einen dunklen Flur hinunter, vorbei an mehreren geschlossenen Türen, zu einem Besprechungszimmer; Senechal folgte ihm mit langsamen, leisen Schritten. Als Ikertu die Büroräume gemietet hatte, eine Etage in einem großen verglasten Kasten, hatte Hammer jedes der Zimmer nach einem seiner Lieblingsdetektive aus der Literatur benannt: Marlowe, Maigret, Beck. Und dieses, das größte von allen, war das Wolfe-Zimmer. Das Fenster, das sich über eine ganze Wand erstreckte, ging nach Westen hinaus auf das Lincoln’s Inn, das heute ein mattgrünes Rechteck in der Frühlingsfinsternis war.
    Senechal lehnte den angebotenen Kaffee ab und nahm ein Glas Wasser, trank fast unmerklich mit seinen schmalen Lippen davon und ergriff das Wort. Er saß aufrecht, dicht am Tisch, vollkommen reglos.
    »Ich bin nicht in eigener Sache hier. Ich habe einen Klienten, der Ihre Hilfe braucht, vielleicht.«
    Webster ließ ihn weiterreden.
    »Er handelt sich um einen bedeutenden Mann.« Er sprach langsam, mit starkem französischem Akzent, und er schaute Webster die ganze Zeit in die Augen. »Einen sehr bedeutenden Mann.«
    Webster wartete erneut und hatte Mühe, Senechals Blick standzuhalten; es fiel ihm schwer, seine Augen auf sein geisterhaftes Gesicht zu richten. Es wirkte irgendwie unfertig.
    »Bevor ich anfange«, sagte Senechal, ohne sich auch nur im Geringsten aus der Ruhe bringen zu lassen, »darf ich Sie fragen, wer Sie sind? Was haben Sie bisher gemacht? Ich weiß gerne, mit wem ich es zu tun habe.«
    Ich auch, dachte Webster bei sich. »Ich arbeite hier mehr oder weniger seit sechs Jahren. Und davor war ich für ein großes amerikanisches Unternehmen in etwa derselben Funktion tätig.«
    »Sie haben schon immer in diesem Beruf gearbeitet?«
    »Früher war ich Journalist. In Russland.«
    Senechal nickte. »Dann kennen Sie sich mit Lügen aus. Das ist gut.« Er sah Webster einen Moment lang an, als wollte er sich ein unvoreingenommenes Bild von ihm machen. »Warum haben Sie die Firma gewechselt?«
    »Warum ich jetzt hier bin? Weil ich die Chance hatte, mit Ike zu arbeiten. Mit Mr. Hammer.«
    Ein erneutes Nicken, dann eine Pause.
    »Mein Klient sorgt sich um seinen Ruf«, sagte Senechal schließlich. »Wir vermuten, dass jemand Unwahrheiten über ihn verbreitet.«
    Webster glaubte zu wissen, was das hieß. Irgendeinem mächtigen Mann, der es gewohnt war, dass ihm sein Anwalt sämtliche Probleme aus dem Weg räumte, hatte man ein Visum oder einen Kredit verweigert, und zum ersten Mal machte er die Erfahrung, machtlos zu sein. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und wir sollen herausfinden, wer?«
    »Später vielleicht. Nein. Darum geht es nicht.«
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