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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie
Autoren: Chuck Palahniuk
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Steuer, kippt er sich mit der anderen die Snacks aus der Schachtel direkt in sein hageres Gesicht.
    Schwester Vigilante hat eine Einkaufstüte mit Kleidern mitgenommen, obendrauf eine kleine Reisetasche.
    Mrs. Clark beugte sich über ihre gewaltigen Brüste, wiegte sie wie ein Kind in ihren Armen und fragte, ob Schwester Vigilante einen Menschenkopf mitgenommen habe.
    Und Schwester Vigilante öffnete die Reisetasche so weit, dass die drei Grifflöcher einer schwarzen Bowlingkugel sichtbar wurden, und sagte: »Mein Hobby...«
    Genossin Snarky wendet den Blick von dem in seinen Notizblock schreibenden Graf Schandmaul ab und richtet ihn auf Schwester Vigilantes straff geflochtenes schwarzes Haar: Keine einzige Strähne ist den Nadeln entkommen.
    »Das«, sagte Genossin Snarky, »ist gefärbtes Haar.«
    Beim nächsten Halt stand draußen Agent Plaudertasche mit einer Videokamera vorm Auge und filmte den ankommenden Bus. Er hatte einen Stapel Visitenkarten dabei, die er verteilte, um zu beweisen, dass er Privatdetektiv war. Mit der Videokamera, die wie eine Maske eine Hälfte seines Gesichts verdeckte, filmte er uns, als er durch den Gang zu einem freien Platz weiter hinten ging, und blendete alle mit seinem Scheinwerfer.
    Eine Straße weiter stieg der Kuppler an Bord, Pferdescheiße an den Cowboystiefeln. Strohhut in der Hand, Seesack über der Schulter, setzte er sich, schob sein Fenster auf und spuckte braunen Tabaksaft aus, der an der Stahlwand des Busses entlang nach unten segelte.
    Diese Sachen nahmen wir mit, um drei Monate fernab von der Welt zu existieren. Agent Plaudertasche seine Videokamera. Schwester Vigilante ihre Bowlingkugel. Lady Tramp ihren Diamantring. Diese Sachen brauchten wir, um unsere Geschichten zu schreiben. Miss Rotz ihre Pillen und Papiertaschentücher. Sankt Prolaps sein Knabberzeug. Graf Schandmaul seinen Notizblock und sein Diktiergerät.
    Der Killerkoch seine Messer.
    In dem schlecht beleuchteten Bus beobachteten wir alle Mr. Whittier, den Betreuer des Workshops. Unseren Lehrer. Man sah die fleckige, glänzende Kuppel seines Schädels unter den wenigen, seitlich darüber gekämmten grauen Haaren. Sein Hemdkragen stand senkrecht, ein gestärkter weißer Zaun um seinen dünnen, fleckigen Hals.
    »Die Leute, vor denen ihr euch davonschleicht«, sagte Mr. Whittier, »wollen nicht, dass ihr was lernt. Sie wollen wissen, was sie von euch zu erwarten haben.«
    Mr. Whittier sagte: »Ihr könnt nicht gleichzeitig der Mensch sein, den die Leute zu kennen glauben, und der großartige Mensch, der ihr werden wollt. Entweder, oder.«
    Die Leute, die uns wirklich und aufrichtig lieben, sagte Mr. Whittier, die würden uns ermuntern, zu gehen. Um unseren Traum zu erfüllen. Unser Handwerk auszuüben. Und sie würden uns lieben, wenn wir wieder zurückkämen.
    In drei Monaten.
    Das bisschen Leben, das wir wagten. Das wir riskierten.
    Diese Zeit wäre unser Einsatz, den wir auf unsere Fähigkeit setzen, ein Meisterwerk zu erschaffen. Eine Kurzgeschichte, ein Gedicht, ein Drehbuch oder eine Biographie, etwas, das unserem Leben einen Sinn verleihen würde. Ein Meisterwerk, mit dem wir uns aus der Sklaverei unserer Ehegatten oder Eltern oder Arbeitgeber loskaufen könnten. Das uns die Freiheit geben würde.
    Wir fahren durch leere, dunkle Straßen. Miss Rotz fischt ein feuchtes Taschentuch aus ihrem Ärmel und schneuzt sich die Nase. Sie schnieft und sagt: »Als ich da weggeschlichen bin, hatte ich solche Angst, dass sie mich erwischen.« Sie stopft das Tuch in den Ärmel zurück und sagt: »Ich fühle mich wie... Anne Frank.«
    Genossin Snarky zieht den Gepäckanhänger aus ihrer Jackentasche, das einzige Überbleibsel ihres zurückgelassenen Koffers. Ihres zurückgelassenen Lebens. Sie wendet den Anhänger immer wieder hin und her, starrt ihn an und sagt: »So gesehen....« Sie sagt: »Anne Frank hatte es echt gut.«
    Und Sankt Prolaps, den Mund voller Mais-Chips, beobachtet uns im Rückspiegel, kaut Salz und Fett und sagt: »Wie bitte?«
    Direktorin Dementi streichelt ihre Katze. Mrs. Clark streichelt ihre Brüste. Mr. Whittier seinen verchromten Rollstuhl.
    Unter einer Laterne an einer Kreuzung vor uns wartet die dunkle Silhouette eines weiteren Möchtegernschriftstellers.
    »Anne Frank«, sagte Genossin Snarky, »musste mit ihrem Buch wenigstens nicht auf Tour gehen.«
    Und Sankt Prolaps tritt auf die Bremse, reißt das Steuer herum und hält am Straßenrand.

Marksteine
Ein Gedicht über Sankt
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