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Die Klinge: Roman (German Edition)

Die Klinge: Roman (German Edition)

Titel: Die Klinge: Roman (German Edition)
Autoren: Richard Laymon
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Meinung, sondern eine Tatsache.
    Ian bemerkte, dass er verärgert die Zähne aufeinanderbiss. Er kannte Helen seit drei Jahren – seit sie an der Grand Beach High angefangen hatte –, und der strenge, humorlose, abweisende Ton, in dem sie ihre Auffassungen vertrat, zerrte an seinen Nerven.
    »Du gibst den Schwarzen Peter weiter«, entgegnete Ronald grinsend und nickend, während er auf ihre Brüste schielte – die mehr als gewöhnlich hervorzustehen schienen, vielleicht wegen des engen, weißen Pullovers.
    Warum zieht sie sich so an?, fragte sich Ian. Wenn es kein enger Pullover ist, ist es eine beinahe durchsichtige Bluse oder ein Minirock, der kaum den Hintern bedeckt.
    Sie kleidete sich nicht nur auf Partys so freizügig, sondern auch in der Schule.
    Aus Ians Sicht passte es nicht zusammen, dass eine gefühlskalte Frau wie Helen sich auf diese Weise zur Schau stellte.
    Vielleicht ist sie nicht so eiskalt, wie es scheint, dachte er.
    Oder ihr ist nicht bewusst, wie Männer auf eine solche Zurschaustellung reagieren, weil sie in ihrer eigenen Welt aus Lehrplänen, Testvorbereitungen und Hausaufgabenbewertung lebt.
    »Ich führe ja nur aus«, sagte Helen, »dass die meisten Kinder erbärmlich schlecht lesen und schreiben können, wenn sie zu uns kommen. Sie sind so weit zurück, dass …«
    »Na ja, Helen, du klingst wie ein Arzt, der sich darüber beschwert, dass die Patienten krank zu ihm kommen. Ich hätte einen Vorschlag für dich. Du könntest deinen Hintern in Bewegung setzen und den armen Wichten helfen .«
    »Das ist leichter gesagt als …«
    »In meine Klassen kommen Kinder, die ein Nomen nicht von einem Verb unterscheiden können. Die einzige Regel, die sie kennen, ist die, die Frauen einmal im Monat bekommen. Und das ist ein College , verdammt noch mal!«
    »Das ist das City College«, erwiderte Helen. »Diejenigen, die lesen können, gehen woandershin.«
    Ronald stieß ein Lachen aus. »Eins zu null für dich!«
    »Außerdem«, fuhr Helen fort, »sind die Kinder nur drei Jahre bei uns.«
    »Nur drei Jahre?«, fragte Ronald spöttisch.
    Helen sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Man kann wohl kaum von uns erwarten, dass wir in drei Jahren die Versäumnisse von einem ganzen Dutzend nachholen.«
    »Ach, bitte.«
    »Vor allem, da die Hälfte der Kinder zu Hause nicht einmal englisch spricht.«
    »Ach, wie dramatisch.«
    Helen stieß mit einer Brust gegen Ians Arm. Die steife Schale ihres BH s gab ein wenig nach, und er spürte die federnde Weichheit darunter. »Du weißt doch, wie es ist. Sag’s ihm.«
    Ian bemerkte, dass er errötete.
    Warum tut sie das?
    Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich sehe keine Rechtfertigung dafür, dass Schüler nach dem Abschluss Analphabeten sind.«
    »Bravo!«, rief Ronald.
    »Vielen Dank auch«, meinte Helen.
    »Mit diesen neuen Kompetenztests«, sagte Ian, »werden wir ihnen vermutlich auch keinen Abschluss mehr geben können .«
    Emily Jean Bonner, die elegant einen Martini in der Hand hielt, schlenderte herüber und gesellte sich zu den dreien. Ian nickte zur Begrüßung, und sie lächelte ihn an, als wäre sie überrascht, dass er sie bemerkt hatte.
    »Ich schätze«, sagte Ronald, »du musst zur Abwechslung mal mehr Zeit auf den Satzaufbau verwenden als auf Shakespeare. Es wird höchste Zeit, wenn du mich fragst. Mit Literatur können sie sich noch auf dem College beschäftigen.«
    »Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel«, zitierte Emily Jean, während sie Ronald anlächelte und ihre scharlachroten Augenbrauen hochzog. Auf Ian hatten die Über reste ihres schleppenden Südstaatentonfalls immer eine leicht traurige Wirkung. Er musste an eine alternde Scarlett O’Hara denken, die ihre Baumwollplantage verlassen musste, jedoch an ihrem Stolz festhielt und – mithilfe eines Schönheitssalons – auch an ihrem flammend roten Haar.
    »Wie soll ein sechzehnjähriges Kind«, fragte Ronald Helen, »die Bedeutung von ›Nein, zu leben / Im Schweiß und Brodem eines eklen Betts / Gebrüht in Fäulnis, buhlend und sich paarend / Über dem garstigen Nest‹ verstehen?«
    »Fantastisch!«, platzte Emily Jean heraus. »Sie kennen Ihren Shakespeare, Mr. Harvey.«
    »Das bringt der Beruf mit sich«, erklärte er mit einem Augenzwinkern.
    Emily Jean stieß ein hohes, zerbrechliches Lachen aus. »Wussten Sie, dass ich am Wilshire Playhouse die Rolle der Linda Loman gespielt habe? Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich den Monolog bei Willys Beerdigung höre. So ein
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