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Die Katze

Titel: Die Katze
Autoren: Joy Fielding Kristian Lutze
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kräftige Kinn, strich ein paar graue Strähnen aus der breiten Stirn und verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. Charley beobachtete ihn und dachte, dass alles an dem älteren Mann einen Tick zu groß war. Normalerweise hätte sie das als tröstlich empfunden, heute Morgen jedoch trug es nur noch mehr zu ihrem wachsenden Gefühl der Hilflosigkeit bei. Sie lauschte dem Dröhnen seiner Stimme, spürte die beiläufige Autorität in jeder noch so kleinen Geste und fühlte sich geschrumpft und unwesentlich. Als sie ihn ansah, begriff sie zum ersten Mal, was die Leute meinten, wenn sie von jemandem sagten, er würde »die Kontrolle übernehmen«. Übernehmen , dachte sie. Nicht ergreifen oder an sich reißen. Ein Mann wie Michael Duff brauchte im Gegensatz zu ihr nicht darum zu kämpfen. Die Kontrolle gehörte ihm - ganz natürlich. Er übernahm sie völlig selbstverständlich, er setzte sie einfach voraus.
    »Ich hätte hier nicht einfach so reinplatzen sollen«, entschuldigte Charley sich eingedenk ihres dramatischen Auftritts. Sie hatte nicht mal geklopft. Sie blickte zu den Journalisten, die jenseits der Glaswand an ihren Schreibtischen saßen und jetzt nicht mehr in ihre Richtung sahen, obwohl sie sie weiter verstohlen beobachteten. Beurteilten.
    »Sie sind verständlicherweise ganz durcheinander.«
    »Das ist bestimmt nicht die erste hässliche E-Mail, die ich bekomme. Und auch nicht die erste Morddrohung.« Starreporter waren solche Bosheiten gewöhnt; meistens waren sie
genauso wenig ernstzunehmen wie die ebenfalls eingehenden Heiratsanträge. Neben Beleidigungen erhielten Journalisten auch oft genug Lob für gute Arbeit und nicht wenige Liebeserklärungen. Manche Leser machten Vorschläge für künftige Kolumnen oder legten Nacktfotos von sich bei, und überraschend viele waren auf der Suche nach jemandem, der ihre Lebensgeschichte aufschrieb. In den vergangenen Wochen hatte Charley zwei solcher Anfragen erhalten und sie möglichst höflich abgelehnt - andere Verpflichtungen, ich bin nicht geeignet für den Job, Sie sollten es selber versuchen. Aber was, wenn manche Leute eine derartige Zurückweisung womöglich persönlich nehmen? »Es ist nur das erste Mal, dass jemand meine Kinder bedroht«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Sie meinen, dass ich überreagiere, nicht wahr?«
    »Überhaupt nicht. Wir nehmen solche Drohungen sehr ernst. Sie haben die Mail doch hoffentlich gespeichert.«
    »Selbstverständlich.«
    »Gut. Ich werde der Polizei melden, was passiert ist, und eine Kopie der E-Mail mitschicken. Vielleicht kann man sie ja zurückverfolgen.«
    »Wahrscheinlich wurde sie von einem Internetcafé aus abgeschickt.«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Michael. »Die meisten von diesen Verrückten sind nicht besonders schlau. Es würde mich nicht wundern, wenn der Mistkerl seinen Computer zu Hause benutzt hätte.«
    » Seinen ? Sie glauben, es ist ein Mann?«
    »Für mich hört sich das schwer nach Macho-Getue an.«
    »Und was mache ich jetzt?«
    »Sie können nicht viel machen, außer besonders vorsichtig zu sein«, sagte Michael achselzuckend. »Öffnen Sie keinem Fremden die Tür; versuchen Sie, niemanden gegen sich aufzubringen; passen Sie gut auf Ihre Kinder auf und lassen Sie die Polizei alles Weitere regeln. Ich glaube nicht, dass er Sie noch
einmal belästigen wird. Solche Typen sind im Grunde Feiglinge. Mit dieser E-Mail hat er sein Pulver garantiert schon verschossen.«
    Charley lächelte und fühlte sich schon viel sicherer. »Die gestrige Kolumne scheint etliche Leser empört zu haben.«
    »Das bedeutet bloß, dass Sie gute Arbeit leisten.«
    »Danke.«
    »Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen«, sagte Michael, als sie die Tür seines Büros öffnete und hinaustrat.
    »Alles in Ordnung?«, fragte eine der Sekretärinnen, als Charley an ihrem Schreibtisch vorbeiging.
    »Alles bestens«, antwortete sie, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen, weil sie Angst hatte, dass sie sonst in Tränen ausbrechen würde.
    »Das haarlose Wunder«, flüsterte irgendjemand vernehmlich.
    »Muss ja höllisch jucken.«
    Begleitet von leisem Lachen kehrte Charley an ihren Schreibtisch zurück. Was würde sie für eine Tür geben, die sie zuknallen konnte, dachte sie und bückte sich, um ihren umgestoßenen Stuhl aufzurichten. Die bedrohliche E-Mail war von ihrem Monitor verschwunden, stattdessen leuchtete ihr der Bildschirmschoner entgegen, ein ein Jahr altes Foto ihrer Kinder.
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