Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
heute Abend verabredet. In den Lärmpegel hinein öffnete sich die Tür und die Fraktionsvorsitzende erschien. Auch heute sah sie wieder aus wie einem Modemagazin entsprungen: schwarze Leggings, dazu hochhackige, silberfarbene Pumps und eine lange, hellgraue Bluse. In ihrem Gefolge befanden sich die Pressesprecherin und ihr Assistent Pietro, ein schöner Deutsch-Italiener, mit dem sie dem Flurfunk zufolge ein Verhältnis hatte. Statt des üblichen Politikerlächelns hatte die Vorsitzende ein ernstes Gesicht aufgesetzt. Auch die Mienen ihres Begleittrosses verhießen nichts Gutes. Was war passiert?
Die Nachricht, die sie überbrachte, löste nicht nur bei Wagner Entsetzen aus. Tobias Wächter war ermordet worden. Schon wieder hatte es einen Politiker der Bürgerpartei getroffen. Nach den Turbulenzen der letzten Monate hatten die Politiker auf ruhigere Zeiten gehofft. Zeit, die die Partei dringend brauchte, um verlorene Reputation bei den Wählern zurückzugewinnen.
Gebannt hingen die Abgeordneten an den sorgfältig geschminkten Lippen der Vorsitzenden. „Noch nicht einmal ein Jahr ist es her, liebe Freunde, dass unser damaliger Vorsitzender Alfred Bitter den furchtbaren Mord an unserem Spitzenkandidaten Uwe Stein bekannt geben musste. Nur wenige Monate nach dem furiosen Wahlsieg dann der plötzliche Tod unseres Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Alfred Bitter. Viele von uns haben ihn noch immer nicht verkraftet. Am Ende hat er uns die Regierungsmehrheit gekostet.“
Wagner schaute verstohlen zur Seite. Der kurzzeitige Ministerpräsident Stutz fummelte nervös an seiner Krawatte. Marion Klaßen fuhr fort: „Bis vor wenigen Minuten war ich zuversichtlich, liebe Freunde, dass wir den Schock der schmerzlichen Wahlniederlage überwunden haben. Es ging aufwärts mit uns. Die Zustimmungswerte zur Bürgerpartei sind in den letzten Wochen gestiegen, erstmals seit Monaten verzeichnete unsere Partei wieder mehr Zugänge als Austritte. Und jetzt das. Ich bin zutiefst erschüttert! Tobias Wächter war mehr als ein politischer Ratgeber, er war ein väterlicher Freund.“
Wagner unterdrückte nur mühsam ein Stöhnen. Irgendwann fingen die meisten Spitzenpolitiker an, ihre Lügen für die Wahrheit zu halten. Bei Marion Klaßen war der Zeitpunkt ungewöhnlich schnell gekommen. Dass die beiden Politiker einander spinnefeind gewesen waren, war ein offenes Geheimnis.
Die Vorsitzende war noch nicht am Ende. „Tobias Wächter hat sich wie kein anderer um die Belange der älteren Generation gekümmert. Der Vorsitzende der Seniorenorganisation wird eine kaum zu füllende Lücke hinterlassen. Wir werden ihn schmerzlich vermissen. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und in einer Minute des Schweigens unseres verstorbenen Kollegen zu gedenken.“
Jeder im Raum wusste, dass sie Wächter gehasst hatte. Doch niemand würde es wagen, die Politikerin mit ihrer Scheinheiligkeit zu konfrontieren. Seit dem Tod Alfred Bitters herrschte ein Klima des Misstrauens und der Angst in der Fraktion. Von Bespitzelungen, abgehörten Telefonaten und heimlich kopierten Computerdateien war die Rede. Niemand wollte bei der Vorsitzenden in Ungnade fallen, viele hatten Angst vor ihr. Empathie und Fürsorglichkeit, wie Albi sie an den Tag gelegt hatte, gingen der neuen Vorsitzenden ab. Wagner kam der Gedanke, ob das, was Wächter ihm anvertrauen wollte, mit seinem Tod zu tun hatte? Hatte er über Material verfügt, um die Vorsitzende zu Fall zu bringen? Wäre Marion Klaßen fähig …? Er verdrängte die boshaften Gedanken. Auch wenn er ihr eine Menge zutraute, aber einen Mord?
„Sie können sich wieder setzen“, beendete Marion Klaßen die Schweigeminute und prompt redeten alle durcheinander. Bis auf Stutz. Als Wagner ihn ansprechen wollte, glaubte er ein verhaltenes Lächeln auf dem Gesicht seines Kollegen zu erkennen. Wagner ging der überraschende Besuch Baumgarts durch den Kopf. Er versuchte sich die letzten Worte Wächters ins Gedächtnis zu rufen. Was hatte er gesagt? „Du wirst mich nicht mehr umstimmen können!“ Worin umstimmen? Was hatte Wächter gemeint? Wollte er aus einem der vielen Projekte Baumgarts aussteigen? Und hatte er nicht etwas von einer Lüge gesagt?
In Wagners Gedanken hinein sorgte das Klingeln der Glocke der Vorsitzenden für Ruhe im Saal. Marion Klaßen hatte noch etwas mitzuteilen. „Mit den Ermittlungen wurde die LKA-Beamtin Verena Hauser beauftragt. Einige werden sich an sie erinnern. Sie hat den
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