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Die Jury

Titel: Die Jury
Autoren: John Grisham
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nach dem schrillenden Wecker. Er fand ihn am üblichen Platz und sorgte mit einem energischen Tastendruck für Stille. Es war halb sechs am Mittwoch, dem 15. Mai.
    Atemlos blieb er im Dunkeln stehen, lauschte dem rasenden Pochen seines Herzens und starrte auf die leuchtenden Zahlen der Digitaluhr, die er so sehr haßte. Ihr Schrillen hörte man sogar auf der Straße. An jedem Morgen um diese Zeit glaubte er sich einem Herzinfarkt nahe. Etwa zweimal im Jahr gelang es ihm, Carla aus dem Bett zu stoßen, und dann schaltete sie den Wecker aus, bevor sie wieder unter die Decke kroch. Aber meistens hatte sie kein Mitleid mit ihm. Sie hielt es für verrückt, so früh aufzustehen.
    Die Uhr stand im Bad, so daß Jake nicht einfach die Hand nach ihr ausstrecken konnte. Und sobald er auf den Beinen war, erlaubte er es sich nicht, ins Bett zurückzukehren. So lautete eine seiner Regeln. Früher, als der Wecker nur leise neben dem Nachtschränkchen gezirpt hatte, brachte Carla das Ding einfach zum Schweigen, bevor Jake erwachte. Dann schlief er bis sieben oder acht, ruinierte sich dadurch den ganzen Tag und konnte nicht um sieben oder acht mit der Arbeit beginnen – eine weitere Regel. Seit die Uhr ins Bad verbannt worden war, erfüllte sie ihren Zweck.
    Jake trat ans Becken und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Kurz darauf betätigte er den Lichtschalter und starrte erschrocken in den Spiegel. Das normalerweise glatte braune Haar bildete ein wirres, zerzaustes Durcheinander, und während der Nacht schien der Haaransatz um mindestens fünf Zentimeter zurückgewichen zu sein. Oder seine Stirn war angeschwollen. Schlaf verklebte ihm die Augen, und der Rand des Lakens hatte einen rötlichen Striemen in der linken Gesichtshälfte hinterlassen. Er rieb ihn vorsichtig und fragte sich, ob er je verschwinden würde. Mit der rechten Hand strich er das Haar zurück und betrachtete es. Als Zweiunddreißigjähriger brauchte er sich nicht mit grauen Strähnen herumzuplagen. Nein, sein Problem bestand in einem tendenziellen Haarausfall, wie er ihn von seinem Vater her kannte – der braune Schopf lichtete sich allmählich. Carla versicherte ihm häufig, daß er noch immer dichtes Haar habe, aber vermutlich war das nicht mehr lange der Fall. Sie behauptete auch, er sei nach wie vor sehr attraktiv, und er glaubte ihr. Manchmal wies sie darauf hin, der zurückweichende Haaransatz verleihe ihm ein Flair der Reife, wie es ein junger Anwalt benötigte. Nun, das stimmte vielleicht.
    Aber was war mit alten, kahlköpfigen Anwälten? Oder mit reifen Anwälten in mittleren Jahren, die eine Glatze hatten? Warum konnte das Haar nicht zurückkehren, wenn Falten im Gesicht und graue Koteletten ganz deutlich von Reife kündeten?
    Jake dachte darüber nach, als er duschte. Anschließend rasierte er sich schnell und streifte die Kleidung über. Um Punkt sechs mußte er im Café sein – noch eine Regel. Er schaltete die Lampen im Schlafzimmer ein, zog Schubladen auf, drückte sie wieder zu, schloß laut die Tür des Kleiderschranks und gab sich alle Mühe, Carla zu wecken. Das übliche Morgenritual im Sommer, wenn sie nicht in der Schule arbeiten mußte. Jake hatte ihr oft erklärt, daß sie tagsüber den versäumten Schlaf mit einem Nickerchen nachholen könne, daß die frühe Phase des Morgens eigentlich gemeinsam verbracht werden solle. Doch sie seufzte nur, drehte sich zur anderen Seite und schlief weiter. Als er angezogen war, sprang er aufs Bett, kroch zu seiner Frau und küßte sie erst am Ohr, dann am Hals und im Gesicht, bis sie sich ihm zuwandte. Daraufhin riß er die Decke fort und lachte, als sie übertrieben schauderte und um Gnade flehte. Er bewunderte ihre gebräunten, schlanken, nahezu perfekten Beine. Das weite Nachthemd verhüllte nichts unterhalb der Gürtellinie, und hundert lüsterne Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
    Etwa einmal im Monat geriet das Ritual außer Kontrolle wenn Carla nicht protestierte und die Decke selbst beiseite schob. Dann zog sich Jake wieder aus und brach mindestens drei seiner Regeln. Hanna verdankte ihre Existenz einem solchen Morgen.
    Doch diesmal blieb er den eigenen Prinzipien treu. Er deckte seine Frau zu, küßte sie noch einmal und schaltete das Licht aus. Sie atmete ruhiger und gleichmäßiger und schlief wieder ein.
    Im Flur öffnete er Hannas Tür und kniete sich neben ihr Bett. Sie war vier, ihr einziges Kind – und es würde keine Brüder oder Schwestern bekommen. Puppen und Plüscht iere
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