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Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition)
Autoren: Sasha Grey
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Marcus überhaupt nicht toleriert. Immer wenn jemand zu spät zur Vorlesung kommt, zieht er eine sehr raffinierte Nummer ab – bloß um denjenigen einzuschüchtern, damit er es ja nie wieder wagt. Er verstummt, sobald er die Tür zum Hörsaal aufgehen hört. Nicht etwa, wenn er den Satz beendet hat, sondern mitten im Wort. Dann wendet er den Kopf, starrt zur Tür und wartet, bis derjenige eintritt. Während der Nachzügler zu einem freien Platz huscht, verfolgt ihn Marcus’ versteinerter Blick auf Schritt und Tritt, und er ist so angepisst, dass man fast Rauch aus seinen Ohren qualmen sieht. Aber er sieht trotzdem noch schnuckelig aus, weil er diese Grübchen hat – dunkle Haare und Grübchen – und es immer so aussieht, als würde er lächeln. Selbst wenn er total wütend ist. Hat sich der Spätankömmling dann hingesetzt, seinen Block vor sich liegen und den Stift gezückt, ist es noch lange nicht ausgestanden. O nein.
    Dann steht Marcus schweigend vorne. Über sein Pult gebeugt und auf beide Hände gestützt starrt er so lange in seine Aufzeichnungen, bis es wirklich unangenehm wird. Fast so, als hoffe er, dass jemand einen Laut von sich gibt und ihm so einen Grund liefert, zu explodieren. Wovor sich alle wohlweislich hüten.
    Wir sitzen in respektvolles Schweigen gehüllt da. Erst wenn er meint, den Kurs lange genug gequält zu haben – und nur dann –, fährt er mit seiner Vorlesung fort. Und zwar genau mit dem Wort, mit dem er zuvor aufgehört hat.
    Anna kommt ständig zu spät. Ich habe zwar noch nie erlebt, dass sie eine ganze Vorlesung verpasst hätte, aber pünktlich kommt sie auch nie. Manchmal taucht sie gerade dann auf, wenn Marcus seine Vorlesung begonnen hat, manchmal mittendrin. Auch heute ist das nicht anders. Sie erscheint zweiundfünfzig Minuten, nachdem die Vorlesung begonnen hat, also weniger als zehn Minuten vor Schluss. Da hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben, sie heute noch zu sehen. Sie spaziert völlig unbekümmert herein. Marcus blickt auf, sieht sie und fährt fort, als sei nichts geschehen. So ist das immer, wenn Anna zu spät kommt, und ich wundere mich jedes Mal über diese Sonderbehandlung.
    Also frage ich sie eines Tages danach.
    »Marcus und ich haben da eine Abmachung«, sagt Anna. »Ich tue ihm einen Gefallen und er mir.«
    »Was für eine Abmachung?«, frage ich.
    »Na ja«, meint sie, »lass es mich mal so formulieren: Marcus hat spezielle Bedürfnisse …«
    Welche speziellen Bedürfnisse das wohl sein könnten?
    Verlangt Marcus von Anna, dass sie ihm die Eier leckt, während er Sie küssten und sie schlugen ihn dekonstruiert? Oder vögelt er sie von hinten, während er aus Was ist Film? von André Bazin rezitiert? Steht er drauf, wenn Anna ihm den kleinen Finger in den Hintern steckt, während er die Vorzüge der Abjektionstheorie darlegt?
    Ich muss es wissen, will meine Fantasien in möglichst vielen Details mit Marcus’ tatsächlichen sexuellen Vorlieben und seinen Fähigkeiten im Bett abgleichen. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Realität noch viel besser ist, als ich es mir je erträumen könnte.
    So haben wir uns angefreundet, Anna und ich, über Marcus, unsere gemeinsame Leidenschaft. Mein Geheimnis. Ihr Liebhaber.
    Also holen wir uns nach der Vorlesung einen Kaffee und setzen uns draußen auf eine Bank, während die anderen Studenten auf dem Weg zu ihrem nächsten Kurs an uns vorbeihasten. Wir sitzen unter einem Baum, geschützt vor der Vormittagssonne, die schon hoch am Himmel steht. Annas Haut ist blass, und sie legt Wert darauf, dass das auch so bleibt. »Ich kriege leicht einen Sonnenbrand«, meint sie.
    »Okay«, sage ich, »leg los. Ich muss es wissen, sonst werd ich noch wahnsinnig: Was ist Marcus’ geheime Vorliebe?«
    »Er macht es gern im Dunkeln.«
    Ich bin enttäuscht. Das klingt ja deprimierend normal.
    »Aber du hast doch gesagt, dass er ein Freak ist. Das hört sich nicht gerade freakig an.«
    »Moment, lass mich ausreden«, fährt sie fort. »Im Schrank. Er macht es gern im Schrank.«
    Das überzeugt mich noch immer nicht, und ich runzle leicht die Stirn.
    »Er ist echt schüchtern, weißt du«, erklärt Anna, die meine Enttäuschung spürt.
    Offenbar hat Marcus einen großen Wandschrank, und wie alles in seiner Wohnung – die laut Anna riesig und spärlich beleuchtet und sparsam möbliert ist – ist der Schrank alt, abgenutzt, antik und aus Holz.
    »Seine Wohnung hat nichts Gemütliches«, erzählt Anna, »keine Couch, keine
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