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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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Vergangenheit haben und auch eine Zukunft, selbst wenn die im Grunde nur in der Erinnerung besteht, die in der Gegenwart wieder feste Gestalt annimmt.
    Wenn es darauf ankam, den Toten Gesellschaft zu leisten, welche Zeit würde dann für die Lebenden gelten? »Ach«, seufzte Laura Dïaz, gewiß mußte man Umschau in den Jahren seines Lebens, in jedem einzelnen von ihnen halten, sich erinnern, sich die Dinge vorstellen, vielleicht das hinzusetzen, was nie geschehen war, selbst das Unvorstellbare, während es nur einen Menschen gab, der alles verkörperte, was er nicht war, was er war oder was er sein konnte und was nie geschehen würde.
    Dieser Mensch war heute sie, Laura Dïaz.
    Als Doktor Teodoro Césarman ihr bestätigt hatte, daß der Krebs ihr selbst bei bester Pflege nicht mehr als ein Lebensjahr lassen würde, beschloß Laura Dïaz, so schnell wie möglich ihren Geburtsort aufzusuchen, und so kletterte sie an diesem strahlenden Maimorgen des Jahres 1972 die kleine Anhöhe zum alten Haus der Familie Kelsen hinauf, das seit vierzig Jahren verlassen dastand, seit Großvater Don Felipe gestorben war und die drei ledigen Schwestern mit den Einkünften aus dem Gut und den Ländereien ihr Auskommen sicherten; als Fernando Dïaz erkrankte, konnte seine Familie damit in Xalapa überleben, wobei ihr die Einnahmen halfen, die Dona Leticia Kelsen, Lauras Mutter, erarbeitete, nachdem die Ländereien von »La Peregrina« enteignet waren und die Mutti beschlossen hatte, sich über das Schamgefühl der Familie hinwegzusetzen und ihr Haus zu einer Pension zu machen, einzelne Zimmer an Gäste zu vermieten, »unter der Bedingung, daß es uns bekannte Leute sind«.
    Lächelnd erinnerte sich Laura an das eifrige Bemühen ihrer Eltern, den Anstand zu wahren. Lächelnd machte sie sich darauf gefaßt, vor der Ruine des alten, einstöckigen Landhauses mit seinen vier weißgekalkten, auf den zentralen Patio ausgerichteten Seiten zu stehen, wo sie als kleines Mädchen gespielt hatte, ringsum von Türen umgeben, die sich öffneten und schlössen und hinter denen sich das Leben der Familie vollzog: die Schlafzimmer, der Salon, das Eßzimmer. Die Außenmauern, das sah sie aus der Ferne, waren alle blind. Eine unerklärliche Scham hielt Laura auf ihrer Wanderung zu ihrem Geburtsort auf, als müßte ihr Geist, bevor sie das zerstörte Haus betreten konnte, sich wieder mit der blühenden Natur vertraut machen, die den Weg zum Haus wies, den Christpalmen und westindischen Tulpen, den roten Lilien, dem Rotholzbaum und dem runden Wipfel des Mangobaums.
    Behutsam öffnete sie das Eingangstor des Hauses und schloß die Augen, tastete sich blindlings durch einen imaginären Gang und erwartete das Stöhnen des Lufthauchs auf den Korridoren, das Ächzen der windschiefen Türen, das Quietschen der angerosteten Türangeln, den überall ruhenden, vergessenen Staub… Warum sollte sie den Verfall ihres Elternhauses offen ansehen, das würde gleichsam bedeuten, dem Verlust der eigenen Kindheit offen gegenüberzutreten, selbst wenn die nun vierundsiebzig-jährige Laura Dïaz mit geschlossenen Augen den Besen des Schwarzen Zampayita hören konnte, der den Hof fegte und dazu sang: »Der Neger Zampayita kennt einen Tanz, da bleibt dir die Luft weg, ganz, ganz, ganz.« Sie erinnerte sich, wie sie an ihrem Geburtstag frühmorgens und noch im Nachthemd auf dem Patio herumhüpfte und sang: »Am zwölften Mai schlüpfte die Jungfrau aus dem Ei, schneeweiße Windeln um den Po und im Paletot…« Sie hörte die melancholischen Noten eines Nocturnes von Chopin, die zu ihr aus dem Saal drangen, in dem Tante Hilda davon träumte, in Deutschland eine große Konzertpianistin zu werden. Und sie hörte die Stimme Tante Virginias, die Verse Rüben Darfos rezitierte und davon träumte, eine große, in der Hauptstadt veröffentlichte Dichterin zu werden. Sie roch den Duft der köstlichen Speisen, der aus der Küche herüberwehte, wo ihre Mutter Leticia das Regiment führte und darauf wartete, daß Don Felipe von der Feldarbeit heimkam, ihr Vater, der fleißig und diszipliniert war, nachdem er seine schwärmerischen Träume eines jungen deutschen Sozialisten für immer abgelegt hatte. Und Großmutter Côsima saß gedankenverloren in ihrem Schaukelstuhl und träumte womöglich von dem ungestümen Protz von Papantla.
    So tastete sich Laura Dïaz blindlings durch ihr Elternhaus, und sie war sicher, daß ihr Orientierungssinn sie nicht im Stich ließ und sie zu ihrem
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