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Die Intrige

Titel: Die Intrige
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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völlig perplex. »Das ist …« Er drehte sich zu den anderen um. »Kommt und probiert das mal.«
    Chip war bereits unterwegs. Etwas an seinen Bewegungen ließ Jonas an Motten denken, die verzweifelt ins Licht flattern, oder an die Tiere – hießen sie nicht Lemminge –, die sich hintereinander von den Klippen stürzten. Jonas hatte das Gefühl, hinterhergehen zu müssen, und sei es nur, um Chip zu schützen. Katherine torkelte unsicher neben ihm her.
    »Streckt die Hand aus«, trug Alex ihnen auf. »Wie fühlt sich das an?«
    Alex schien es nicht geschadet zu haben, also schob Jonas den Markerjungen gehorsam die Hand in den Brustkorb.
    Er spürte gar nichts. Es war so, als würde er die Hand einfach in die Luft halten. Die Markerjungen schienen überhaupt nichts zu bemerken. Jetzt schubsten sie sich und lachten weiter lautlos vor sich hin.
    »Und?«, fragte Katherine, nachdem sie mit der Hand durch beide Marker gefahren war.
    »Findet ihr nicht, dass sie sich verschieden anfühlen?«, fragte Alex. »Der hier kommt mir irgendwie … realer vor.« Er zeigte auf den kleineren Jungen, der diegleichen geschwungenen Augenbrauen und die gleiche Adlernase hatte wie er selbst.
    »Nein, der hier«, widersprach Chip. Er stand neben dem älteren Jungen, der den rechten Arm hochhielt, um irgendetwas zu betonen, was er seinem kleinen Bruder gerade erklärte. Jonas wünschte, er könnte von den Lippen ablesen, um zu erfahren, was der Junge sagte.
    Chip dagegen achtete nicht auf das Gesicht des Jungen. Er schob seinen rechten Arm genau über den Arm des Markers. Träumerisch spreizte er die Finger, bis sie sich direkt über denen des Markerjungen befanden. Chips Hand war größer, seine Finger länger, aber dieser Unterschied schien in dem Augenblick zu verschwinden, in dem sich die beiden Hände berührten.
    »Boah«, sagte Chip mit verblüffter Miene.
    Dann setzte er sich so, dass seine Beine die des Markerjungen überlappten, lehnte den Oberkörper zurück in den Brustkorb des Jungen und überdeckte mit seinem Gesicht das des Markers.
    Im gleichen Moment hörte der Markerjunge auf zu leuchten.
    Und Chip verschwand.

Vier
    »Chip!«, schrie Katherine auf.
    Chips Kopf fuhr nach vorn und löste sich kurz von dem des Markerjungen.
    »Ist schon gut«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Das ist total cool!«
    Dann lehnte er den Kopf wieder zurück und nahm erneut die Umrisse des Markerjungen an.
    Jetzt sah Jonas, dass Chip nicht gänzlich verschwunden war. Er konnte immer noch seine Jeans, das Ohio-State-Sweatshirt und die Nike-Schuhe sehen, allerdings vermischt mit dem schwarzen Obergewand, den Strumpfhosen und den feenhaften Schuhen des Markerjungen. Und in den blonden Locken entdeckte Jonas Chips vertraute Kringel. Selbst Chips Gesicht schien eine Mischung aus dessen staunender Begeisterung und der ernsteren Miene des Markerjungen zu sein. Jonas hatte keine Ahnung, wie er zwei Dinge zur gleichen Zeit am gleichen Ort sehen konnte, aber so war es.
    »Wie bei dem Spiegel«, flüsterte Katherine.
    »Ja, stimmt«, murmelte Jonas. Er wusste genau, welchen Spiegel sie meinte. Einmal hatten ihre Eltern im Urlaub mit ihnen ein Wissenschaftsmuseum besucht. Dort hatte man einen seltsamen halbtransparenten Spiegel aufgebaut, vor dem man auf beiden Seiten Platz nehmen und, wenn das Licht richtig eingestellt wurde, beobachten konnte, wie die Gesichter zu einem verschmolzen. Katherine war davon ganz begeistert gewesen und hatte jede Menge Fremde angeschleppt, die sich ihr gegenübersetzen sollten. »So würde ich also aussehen, wenn ich schwarz wäre … So würde ich aussehen, wenn ich Asiatin wäre«, hatte sie immer wieder gesagt. Als die Eltern sie schließlich von dort wegschleppten, hatte sie Pläne geschmiedet: »Wenn ich mich später verliebe und heiraten will, bringe ich meinen Freund vorher hierher, damit wir feststellen können, wie unsere Kinder mal aussehen.«
    »Siehst
du
denn aus wie die Gesichter von Mom und Dad zusammengenommen?«, hatte Jonas mürrisch gefragt.
    »Zum Glück hat sie nicht meine großen Ohren abbekommen«, hatte sein Vater gescherzt, während Mom warnend den Kopf schüttelte und Katherine für ein Vieraugengespräch beiseitezog. Jonas hätte die Stichworte »Jonas … sensibel … Adoption« gar nicht hören müssen, um zu wissen, worum sich diese Unterhaltung drehte. Dabei war es ihm gar nicht darum gegangen, dass er ein Adoptivkind war und niemals wissen würde,welche Züge er von welchem Elternteil geerbt
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